Samstag, 12. September 2015

Mächtige Mafiosi und resignierte Bürger

In der Heimat der 'Ndrangheta ist die Armut groß und der Staat kaum präsent. Platì und andere Dörfer in Südkalabrien werden seit Jahren zwangsverwaltet und von der Politik vernachlässigt.



Seit Jahren hat Platì keinen gewählten Bürgermeister mehr und wird durch einen «Commissario» zwangsverwaltet. Der Gemeinderat des Orts mit 3700 Einwohnern an der Südspitze Kalabriens ist in den letzten zwölf Jahren dreimal wegen Mafia-Infiltration aufgelöst worden. Bei den Kommunalwahlen 2014 schaffte es die einzige eingereichte Liste nicht, das nötige Quorum zu erreichen. Beim letzten Urnengang im Mai trat erst gar keiner mehr an.

Politiker leben in Platì, der Heimat der 'Ndrangheta, gefährlich. Domenico Demaio, der letzte Bürgermeister, der es wagte, sich der organisierten Kriminalität entgegenzustellen, bezahlte seinen Mut 1985 mit dem Tod. Der kleine Platz vor dem Gemeindehaus wurde vor ein paar Jahren nach ihm benannt und eine Gedenktafel zu Ehren «des Helden der ehrlichen Bürger von Platì» angebracht. An den Machtstrukturen im Ort hat sich dadurch wenig geändert.


Schutzgelder

Platì und seine Nachbargemeinde San Luca sind in ganz Italien bekannt, oder besser gesagt berüchtigt. Die kalabresische Mafia war hier im 19. Jahrhundert aus Gruppen von Briganten heraus entstanden (wie Räuber und Gesetzlose damals genannt wurden). Traditionell waren Entführungen und Erpressungen die Haupteinnahmequellen der Clans. Mittlerweile verdienen diese ihr Geld vor allem mit Drogenhandel und Geldwäsche.

Der kometenhafte Aufstieg der 'Ndrangheta in den letzten Jahrzehnten hat Platì allerdings wenig gebracht. Wohltätigkeit gehört nicht zu ihrem Programm. Die Herrschaft der Clans beruht auf dem Konsens weniger und der stillen Duldung vieler, die sich aus Angst oder Eigeninteresse den Kriminellen unterwürfen, anstatt Anzeige zu erstatten. Die Machenschaften der Mafia kosten Kalabrien laut der Studie 1,2 Milliarden Euro im Jahr. Rund 40 000 Firmen seien gezwungen, Schutzgelder zu zahlen.




Auch viele Politiker und Beamte sind korrupt oder stecken mit der organisierten Kriminalität unter einer Decke. Sonst ist der Staat hier wenig präsent, einmal abgesehen von Repressionsmaßnahmen. Die Locride, das Gebiet zwischen den schönsten Stränden Italiens am Ionischen Meer und dem atemberaubenden Bergmassiv des Aspromonte, hätte großes touristisches Potenzial. Doch die jahrzehntelange staatliche Vernachlässigung hat Spuren hinterlassen. In einigen Vierteln Platìs gibt es bis heute kein fließendes Wasser. Die Straßen sind in einem katastrophalen Zustand.

Am Fuße des Ortes im Tal steht das Skelett einer geplanten Schnellstraße auf Betonpfeilern, das inmitten eines Feldes endet. Das Bauwerk wirkt wie ein Mahnmal der Perspektivlosigkeit. Das Großprojekt war um die Jahrtausendwende in Angriff genommen worden, um die Ost- und die Westküste Kalabriens zu verbinden und damit der Isolation der bitterarmen Locride ein Ende zu setzen. Doch seit Jahren steht die Bauarbeit still.

Die Menschen hier leben von ihren Olivenbäumen und ihrem Vieh. Doch in der Landwirtschaft lässt sich immer weniger verdienen, und andere

Erwerbsmöglichkeiten gibt es kaum. Die Arbeitslosigkeit ist noch höher als in anderen Ecken Süditaliens. «Jeder zweite Jugendliche hat keine Arbeit», erklärt der Anwalt Antonio Pangallo. «Und was sollen junge Leute hier in der Freizeit tun? Es gibt weder einen Fußballplatz noch ein Kino.» Wer könne, verlasse Platì, sagt der Mittvierziger. Er sei aus Überzeugung geblieben. Aus seiner ehemaligen Schulklasse lebe sonst kaum noch einer hier. Der von Rom entsandte Zwangsverwalter, Luca Rotondi, tut, was er kann, um den Bürgern mit den beschränkten Mitteln, die er zur Verfügung hat, das Leben zu erleichtern. Bald würden alle Haushalte fliessendes Wasser haben, erklärt er stolz.


Vorurteile und Sippenhaftung

Niemand im Ort stellt Rotondis gute Absichten infrage. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern ist der zupackende Neapolitaner populär. «Trotzdem wollen wir nicht länger zwangsverwaltet werden», sagt Giuseppe Lentini. «Wir wollen endlich wieder einen gewählten Bürgermeister!»




Der ehemalige Vizebürgermeister hat eine unglaubliche Wut im Bauch. Im November 2003 war er bei einer Großrazzia verhaftet und nach 22 Tagen aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen worden. Alle damals Verhafteten seien unschuldig gewesen, behauptet der 67-Jährige. Dem dürfte zwar kaum so gewesen sein. Bei der Aktion scheint aber tatsächlich vieles schiefgelaufen zu sein. Von über 140 Verhafteten kamen am Ende 19 vor Gericht; 8 von ihnen wurden verurteilt, der Rest kam wegen Verjährung frei.

Justiz und Polizei konnten im Kampf gegen die 'Ndrangheta in den letzten Jahren allerdings auch einige Erfolge verzeichnen. Zahlreiche Mafiabosse – unter anderem aus Platì – wurden verurteilt und Vermögen im Wert von Milliarden beschlagnahmt. Heute vergeht kaum ein Tag, an dem die Medien nicht über Polizeiaktionen gegen die kalabresische Mafia irgendwo im Land berichten. Dennoch scheint diese kein Nachwuchsproblem zu haben. Söhne, Brüder und Cousins der Verurteilten führen die Geschäfte weiter, und wenn die Bosse ihre Strafe abgesessen haben, steigen sie meistens sofort wieder ein.

Wegen der starken lokalen Verwurzelung der 'Ndrangheta ist in Platì fast jeder direkt oder indirekt mit einem verurteilten oder gesuchten Mafioso verwandt. Das Innenministerium scheint deshalb die gesamte Bevölkerung eines politischen Amtes für unwürdig zu halten.

Und Platì ist kein Einzelfall. «Als ich Vizebürgermeister war, wurde der Gemeinderat mit fragwürdigen Argumenten aufgelöst», so schimpft Lentini. «Wir werden hier kollektiv als Verbrecher abgestempelt. Selbst wenn mein Onkel ein Krimineller wäre, könnte aber doch ich ein ehrwürdiger Mensch sein!»

Auch Rosario Rocca, Bürgermeister des benachbarten Benestare, kritisiert die Auflösung gewählter Lokalverwaltungen. Der Staat könne nicht ganze Gemeinden in Sippenhaftung nehmen, sagt der 38-Jährige, der ein bequemes Leben als Lehrer in Turin aufgegeben hat, um in seiner Heimatgemeinde die Dinge zu verändern. Platì sei ein Sinnbild für das Scheitern des Staates in der Region. Die Rechte der Bürger würden hier seit Jahren mit Füssen getreten. Damit spiele der Staat der Mafia in die Hände, anstatt das Volk auf seine Seite zu ziehen.


Resignierte Bürger

Auf einem Schild über der Kasse in dem kleinen Lebensmittelgeschäft von Platì steht: «Kein Einkauf auf Kredit!» Früher habe man anschreiben lassen, erklärt der junge Verkäufer. Doch immer mehr Leute könnten ihre täglichen Einkäufe nicht mehr bezahlen, und irgendwie müsse man ja selbst über die Runden kommen. Platì ist ein Kaff. Jeder kennt jeden. Besucher werden misstrauisch beäugt, Journalisten sowieso. Von den Medien erwartet man nichts Gutes. Die verbreiteten nur Lügen, erklärt uns Lentini über einem Bier. Er nimmt sich immerhin die Zeit, uns seine Sicht der Dinge darzulegen. Die anderen Männer, die an diesem Abend in der Bar an der Hauptstraße Karten spielen, schauen uns nur grimmig an.

Die Menschen in Platì fühlen sich als Opfer. Als Opfer der Justiz, der Politik, der öffentlichen Meinung und wahrscheinlich auch jener, denen sie dies alles verdanken. Doch das wagt keiner laut zu sagen. Unter der Mafia litten die Dörfler nicht, nur unter dem Staat, sagt Pangallo. Auch Lentini leugnet das Problem: «Was sehen Sie hier? Macht? Reichtum? Nur bittere Armut gibt es!» Die Mafia finde man dort, wo es Geld zu verdienen gebe, fügt er hinzu, im Finanzsektor und in der Politik.

In der Tat wirkt Platì nicht gerade wie die Hochburg des einflussreichsten Verbrechersyndikats Europas. Die Clans scheinen hier kaum wirtschaftliche Interessen zu verfolgen. Die Heimat bleibt laut Ermittlern aber ein wichtiges Rekrutierungszentrum und ein Rückzugsort für gesuchte Mafiabosse. Platì ist ihr Zuhause, und solange hier ein politisches Vakuum herrscht, können sie sich sicher fühlen.

Die Parlamentarierin Doris Lo Moro spricht von einer schweren Krise der Beziehung zwischen Bürgern und staatlichen Institutionen. Gemeinden, die von der Mafia infiltriert seien, brauchten dringend mehr staatliche Hilfe, sagt die aus Kalabrien stammende Senatorin. Es reiche nicht, einen «Commissario» zu entsenden und diesen dann sich selbst zu überlassen. Damit gebe man die Ortschaften der Mafia preis, und die Bürger fühlten sich zu Recht vom Staat im Stich gelassen.


Ein mutiger Bürgermeister

Dass es anders geht, hat Rosario Rocca bewiesen. Er und sein Team von Gemeinderäten wurden 2009 in Benestare gegen den Widerstand der lokalen Mafia gewählt und im letzten Jahr mit überwältigender Mehrheit bestätigt. Wie überall in der Region sei die 'Ndrangheta auch in seiner Gemeinde allgegenwärtig, sagt er. Doch sei es ihm gelungen, diese aus öffentlichen Aufträgen und anderen Gemeindeangelegenheiten herauszuhalten.




Er wolle den Rechtsstaat stärken und eine gewisse Normalität für die 2500 Bewohner schaffen, sagt Roca. Das passe den Mafia-Clans natürlich nicht. Dreimal hätten sie sein Auto angezündet und wiederholt auch seine Familie bedroht. Mehrere Male seien zudem Kehrichtwagen der Gemeinde zerstört worden. Er habe seinen Feinden aber klargemacht, dass er sich durch Einschüchterungsversuche nicht von seinem Kurs abbringen lasse, fügt der noch immer sehr motiviert scheinende 36-Jährige hinzu.

Die Unterstützung der Bevölkerung gebe ihm den Mut, weiterzumachen.
«Der demokratische Staat hat in Kalabrien kläglich versagt», kritisiert Rocca. «Lokalpolitiker bekommen kaum Unterstützung. Die Institutionen auf Distrikt- und Regionalebene sind schwach oder unterwandert. Die Verbrechen der Mafia bleiben ungesühnt. Nur dank diesem institutionellen Vakuum konnte die 'Ndrangheta hier so stark werden.» Sein wichtigstes Projekt war die Schaffung von Quartierkomitees, mit denen er die Teilnahme am öffentlichen Leben stärken will. «Die Bürger haben resigniert. Ich will sie politisch wieder einbinden und zeigen, dass positive Veränderungen selbst in einem Ort wie Benestare möglich sind.»


Eine engagierte Politikerin

Auch die aus einem Küstenort der Locride stammende Maria Grazia Messineo sieht die politische Klasse in der Pflicht, allen voran ihren Partito Democratico. «Bei den Regionalwahlen im Mai haben die Demokraten und seine Verbündeten in Platì über 70 Prozent der Stimmen erhalten. Dennoch haben wir es nicht geschafft, Kandidaten auf lokaler Ebene aufzustellen. Wie ist das möglich?», fragt die Jungpolitikerin.
«Die Justiz und die Polizei können den Kampf gegen die Mafia allein nicht gewinnen. Sie sind auf die Unterstützung der Politik angewiesen», sagt die 26-Jährige.




Die Mehrheit der Bewohner von Platì seien ehrliche Menschen. Im Gegensatz zur Mafia seien sie aber nicht organisiert. Das wäre eigentlich die Aufgabe der Parteien, doch diese seien hier seit Jahrzehnten nicht mehr präsent. Die Rechtsstudentin organisiert in Platì regelmäßig Bürgerversammlungen und ist überzeugt, dass sich im Ort durchaus wählbare Kandidaten für politische Ämter finden würden. Einen kleinen Erfolg konnte sie bereits verbuchen, wie sie sagt. Mit Unterstützung von Parteikollegen aus Rom wurde im Juni in Platì ein Parteisitz eröffnet. Das Büro steht allerdings noch immer leer, weil die Regionalsektion der Demokraten es bisher nicht geschafft hat, einen Sekretär zu ernennen.

Der Regierungschef Renzi sei angetreten, um die korrupten politischen Strukturen im Land zu «verschrotten», erklärt Messineo. Kalabrien habe seine Politik der Erneuerung leider noch nicht erreicht.

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