Sonntag, 16. August 2015

Dem Mezzogiorno droht der langsame Tod

14.08.2015 | 16:45 |  von Karl Gaulhofer  (Die Presse)

Es führt kein Weg in den Süden. Zumindest keiner, der Reisende schnell und sicher ans Ziel bringt. Seit einem halben Jahrhundert wird an der Autostrada A3 gebaut und repariert – länger als an jedem anderen Straßenprojekt in Europa. Wen es an des Stiefels Spitze zieht, der passiert ab Neapel zahllose unbeleuchtete Tunnel und rostige Straßenschilder. Selbst auf manchen neuen Abschnitten darf man nur langsam fahren. Der Zement ist dort zu verdünnt, um stabil zu sein. Neue Brücken mussten wieder abgerissen werden. Was die Fahrer trotz vieler Baustellen kaum sehen, sind Arbeiter – obwohl an die Tausend beschäftigt sind.





Verborgen bleiben auch die in Pfeilern einbetonierten Leichen und die in Flammen aufgehenden Baumaschinen. Jeder Kilometer geht an einen anderen Auftragnehmer, hinter allen steht die Mafia. Gut organisiert ist hier nur die Kriminalität: Die Clans der kalabresischen 'Ndrangheta teilen sich die Pfründe auf. Fertig soll die „Autostrada della Mafia“ nun 2018 sein – zum Zehnfachen der geplanten Kosten, auch der Mittel aus Brüssel.

Keine Brücke nach Europa. Beifahrer blicken beklommen auf Bauruinen in einsamer Landschaft. Man passiert den Hafen von Gianni Tauro, Europas Landeplatz für Kokain aus Lateinamerika. Die Straße endet in der trostlosen Provinzstadt Reggio Calabria. Dort löste die Regierung vor drei Jahren den korrupten Stadtrat auf und stellte die Verwaltung unter Kuratel. Immerhin: Die berühmten Bronzen von Riace, der touristische Trumpf der Region, sind wieder zu sehen. Lang hatte man sie unter eine Treppe verstaut, weil sich die Renovierung des Museums um vier Jahre verzögerte. Mit der seit Jahrzehnten versprochenen Brücke nach Sizilien aber dürfte es nie etwas werden. Keiner traut sich über das Projekt, auch aus Furcht vor Mafia und korrupten Beamten. So bleibt die größte Insel des Mittelmeers ohne Anschluss an den Kontinent. Die Straße in den Süden erweist sich als Sackgasse.




Reicher Norden, armer Süden: Seit jeher gilt der Mezzogiorno als Italiens Sorgenkind. Zu den Ritualen des ungelösten Problems gehören auch die Klagelieder der Svimez. Die Jahresberichte dieses privaten Instituts, das Vorschläge zur Entwicklung Süditaliens macht, sind für Regionalpolitiker stets ein willkommener Anlass, mehr Gelder aus Rom zu fordern. Aber heuer haben die Forscher und Mahner einen weit stärkeren Nerv getroffen.

Dem Süden drohe eine „industrielle Wüste“, ein „demografischer Tsunami“ und eine „dauerhafte Unterentwicklung“: Diese knackigen Formeln haben der italienischen Politik ihr heißes Sommerthema beschert. Vor allem, als Mafiaexperte und Bestsellerautor Roberto Saviano seinen Befund nachgeschoben hat: „Der Süden liegt im Sterben. Alle wollen fort, sogar die Mafia“ – weil sie das große Geld im Norden machen muss, plündere sie ihre Heimat nur mehr routinemäßig aus. In einem offenen Brief gab der Neapolitaner seinem „Lieben Ministerpräsidenten“ die Schuld an der Misere. Erst recht kochte die Polemica hoch, als Matteo Renzi unwirsch reagierte: Die Süditaliener sollten „aufhören zu jammern“ und „besser die Ärmel hochkrempeln“.

Abseits vom politischen Theatersommer sprechen die Zahlen für sich. Am wenigsten freilich jene, die rasch in aller Munde war: dass sogar Griechenlands Wirtschaft von 2000 bis 2013 doppelt so schnell gewachsen ist wie die der acht Regionen in Italiens Süden. Das hellenische Pseudowachstum auf Pump sollte besser nicht als Maßstab dienen. Zurecht aber verstört der Kern der Analyse: Die Schere zwischen Nord und Süd geht noch weiter auf. Nach sieben Jahren Rezession ist die Investitionsbereitschaft so niedrig, dass dem Mezzogiorno eine Abwärtsspirale droht. Die produktive Basis bricht weg: Während Italiens Norden das EU-Ziel von 20 Prozent Industrieanteil an der Wertschöpfung übererfüllt, ist die Quote im Süden von 14 auf elf Prozent zurückgefallen.




Vor allem aber: Es gehen die Bambini aus. Lang hob der Landesteil den nationalen Schnitt einer stark sinkenden Geburtenrate. Nun haben sich die Verhältnisse, auf verheerend niedrigem Niveau, umgedreht: In Nord und Mitte stieg die Zahl der Kinder pro Frau zwischen 2000 und 2013 von 1,18 auf 1,43, im Süden fiel sie von 1,35 auf 1,31.

Wer es dennoch schafft, auf die Welt zu kommen, denkt schon bald ans Fortziehen. Gerade die gut Ausgebildeten flüchten nach Mailand, Turin, Bologna – oder ins Ausland. Das Land leert sich: Bis 2065 wird der Anteil der Meridionali an der Gesamtbevölkerung von 34 auf 27 Prozent sinken.


Segen und Fluch der Cassa

Gleich nach Renzis ruppiger Reaktion ruderte seine Regierung zurück. Die zuständige Ministerin versprach 80 Mrd. Euro als Investitionsprogramm, wohl wie üblich durch noch mehr Schulden finanziert. Dabei zeigt die Erfahrung: Mit massiven Mitteln aus Rom ist dem Sorgenkind nicht zu helfen. In der Nachkriegszeit pumpte die Cassa del Mezzogiorno, eine Art italienischer Marshallplan, eine halbe Billion Euro in den armen Süden. Straßen und Kraftwerke bereiteten den Boden. Stahlwerke, Raffinieren und Autofabriken folgten. Zum Teil führte sie der Staat, zum Teil lockte er mit Subventionen private Konzerne an. Anfangs verringerte sich so das Wohlstandsgefälle.

Doch die Rechnung ging nicht auf. Man hoffte auf eine Eigendynamik: Im Umfeld der herbeigezwungenen Leitbetriebe sollte unternehmerische Initiative erblühen. Aber es blieb bei „Kathedralen in der Wüste“. Die gleiche bittere Erfahrung machte Brüssel, das 1971 die Förderung übernommen hatte. Als mit Spanien und Portugal ärmere Länder der EU beitraten, versiegten diese Mittel. Die meisten „Kathedralen“ sind heute Industrieruinen – und ein Menetekel für Europa. Zumal Brüssel mit seinen Investitionsfonds gerade auch arme Gegenden in Europas Süden auf die Beine helfen will: Griechenland, Sizilien, Andalusien und den Alentejo.

Italiens Mächtigen aber fiel zu ihrem Mezzogiorno nichts mehr ein, schon um der separatistischen Lega Nord keine Munition zu liefern. Seit aber bei den Regionalwahlen im Vorjahr auch Kampanien und Apulien an Renzis Partito Democratico gegangen sind und damit der ganze untere Stiefel in linker Hand ist, steigt der Druck auf den Premier im eigenen Lager.

Ein echtes Rezept gegen die Misere hat freilich keiner. Kampf der Korruption, weniger Bürokratie, eine effizientere Verwaltung und weniger Steuern für neue Firmen: All das könnte helfen. Aber wenn die Trägheit alles lähmt? Woher kommt sie? Warum driften zwei Teile einer Nation mit gleicher Sprache, gleichen Medien und gemeinsamer Öffentlichkeit ökonomisch so auseinander? Die Ursachen liegen in der Geschichte. In den Stadtstaaten Norditaliens und der Toskana entwickelte sich seit dem Mittelalter ein Bürgersinn, der Samen unserer Zivilgesellschaft. In einem solchen Milieu gilt der Staat als gemeinsames Projekt, an dem jeder teilhaben kann und teilnehmen soll. Auf dem Land dominierte die Halbpacht, die allen Bauern die Hälfte ihres Ertrags beließ. Das förderte unternehmerisches Denken und Handeln.


Die Obrigkeit

Im Königreich Sizilien aber wechselten sich immer nur despotische Fremdherrscher ab, von den Staufern bis zu den Bourbonen. Die Adeligen hockten antriebslos auf riesigen Latifundien, die sie extensiv bewirtschaften ließen. Ihre Knechte hatten keinerlei Anreiz zur selbstständigen Initiative. In einem solchen Umfeld ist der Staat nicht mehr als eine verhasste Obrigkeit. Man überlebt, indem man ihn überlistet. Die einen untergraben ihn, als Banditen und Schmuggler. Die anderen nisten sich parasitär im öffentlichen Raum ein, um Familie und Freunde zu versorgen. So kommen Klientelwirtschaft und Korruption zur Blüte.

Trotz vieler schöner Gegenbeispiele, vom ideenreichen Biobauern bis zur Bürgerinitiative gegen die Mafia: Im Grunde ist diese Kluft in den Köpfen bis heute nicht überwunden. Sie hat das Wahlrecht überlebt, das „Telegiornale“ und den Siegeszug des Internets. Zuweilen scheint es, als würden nur Steuern und Budget alle Italiener als Staatsbürger verbinden – was Konflikte schürt. Nicht nur wegen des Finanzausgleichs. Sondern auch, weil selbst besser gestellte Süditaliener im Schnitt nur wenig fiskalisch beitragen – auch die Bereitschaft, Steuern zu zahlen, ist in Italien eine Frage des Breitengrads. Irgendetwas muss den Italienern und dem vereinten Europa einfallen, um diese Kluft zu überwinden. Auch wenn er eine ewige Baustelle ist: Am Süden führt kein Weg vorbei.

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