Dienstag, 14. Juli 2015

Raffaela Ottaviano befreit sich von der Camorra

Von Julius Müller-Meiningen
Jahrzehntelang war die italienische Kleinstadt Ercolano am Fuß des Vesuvs in den Händen der Camorra. Dann zeigte eine Boutiquenbetreiberin ihre Erpresser an und leitete eine Zeitenwende ein. Der Weg könnte ein Modell für ganz Italien sein.




«Genau hier ist es passiert», sagt Raffaella Ottaviano und zeigt mit dem Finger auf die Glastür. Sie steht in ihrer Boutique, in der es aussieht wie in einer Wäscherei, die Kleider hängen in durchsichtigen Plastiktüten an den Ständern. In dieser Tür also standen plötzlich die zwei Gangster. Einer der beiden kräftigen Kerle blieb als Wache auf dem Trottoir. Der andere trat auf die heute 74 Jahre alte Inhaberin zu. Er sagte: «Signora, Onkel Giannino will Sie sprechen.» Raffaella Ottaviano, eine wache Frau, verstand sofort.



Zwei Clans der Camorra, der neapolitanischen Mafia, kämpften damals in Ercolano um die Vorherrschaft. Links der Hauptstraße, die vom Vesuv hinunter zu den Ausgrabungen der antiken Stadt Herculaneum führt, hatten die Ascione das Sagen. Rechts bestimmte der Birra-Clan. Raffaella Ottavianos Geschäft liegt auf der linken Seite dieser Demarkationslinie namens Corso 4 Novembre. Also fiel ihr Laden in die Zuständigkeit der Ascione.

70 Tote hatte der Krieg der Clans innerhalb weniger Jahre gefordert, es gab Zeiten, da verging kein Abend ohne Leiche. Onkel Giannino, das war der Spitzname für den Boss der Ascione. Gesenkten Kopfes, wie eine hörige Untertanin sollte Ottaviano die erpresserische Macht der Herrscher akzeptieren und sich die Höhe des Pizzo, des Schutzgelds, diktieren lassen.

Raffaella Ottaviano aber sagt: «Ich dachte gar nicht daran zu zahlen.» Sie streicht sich ihr weißes Haar zurecht. Wer denn dieser Onkel Giannino sei, wollte sie von den Mafiosi wissen. Der Mann in ihrem Laden reagierte irritiert. Er stelle hier die Fragen, nicht sie. «Ich zitterte vor Angst, aber ließ es mir nicht anmerken», erzählt die Ladeninhaberin. Nie zuvor war sie erpresst worden.


das heutige Ercolano


Nein, sie habe nicht die Absicht zu bezahlen, sprach die Ladeninhaberin mit fester Stimme. «Signora, Sie wissen, was Ihnen blüht?», konnte der erstaunte Camorrista noch sagen, als es aus Raffaella Ottaviano fuhr wie ein Donner: «Raus jetzt, raus aus meinem Laden!» Die Geschäftsfrau setzte die Mafia vor die Tür. «Wir kommen wieder», drohten die Gangster.

Das war im Jahr 2004. Der Rauswurf war der Beginn eines langsamen, leisen, aber unaufhaltbaren Umsturzes in Ercolano. Ottavianos Widerstand markierte den Anfang vom Ende der Camorra in diesem kleinen Städtchen wenige Kilometer südlich von Neapel.«Modello Ercolano» taufte der neapolitanische Staatsanwalt Rosario Cantelmo später dieses Konglomerat.

Das Zusammenspiel von Carabinieri, Stadtverwaltung und Justiz sowie mutigen Bürgern und Erpressungsopfern, die sich organisierten, habe das Verbrechen besiegt, sagt Cantelmo. Ercolano, meinen viele, könnte ein Modell für den gesamten italienischen Süden sein, der in weiten Teilen noch immer von der Mafia beherrscht wird.


Handkuss vom Kommandanten

«Ich habe die Mauer des Schweigens zum Einsturz gebracht», sagt Ottaviano ohne falsche Bescheidenheit. Sie nestelt an ihrer roten Bluse. Dort prangt seit etwa einem Jahr die Anstecknadel mit dem italienischen Verdienstorden, verliehen vom Staatspräsidenten.

Die Camorra sei eine Krake, sagt Ottaviano. Wenn sie einen einmal erfasst habe, lasse sie nie wieder los. Deshalb wollte sie nicht zahlen, ganz einfach. Wie viel Geld der Ascione-Clan genau von ihr wollte, wisse sie nicht. «Aber wenn du dich ihnen beugst, musst du irgendwann den Laden zu machen.» Sie hatte Angst, das schon. Aber nach einer Besprechung mit der Familie zeigte Ottaviano ihre Erpresser an.

Ascione-Clan-Boss Pietro Papale


Schutzgelderpressung war damals weit verbreitet in Ercolano. An Weihnachten, Ostern und Mariä Himmelfahrt trieben die Clans ihre Quoten ein. «Für die Inhaftieren», sagten sie. Auf diese Weise demonstrierte die Camorra vor allem ihre Macht über die Menschen. Niemand zog die kriminelle Vorherrschaft in Zweifel. So kam es, dass einige Mitbürger lieber Abstand nahmen von Ottaviano. «Sei vorsichtig, hol mich lieber nicht mehr ab», riet ihr etwa eine Freundin.

Ottaviano wollte weiter frei sein, die Eskorte, die ihr die Carabinieri angeboten hatten, lehnte sie ab. Aber es gab auch diejenigen, die sagten: «Raffaellina, es ist eine Ehre, neben dir auf der Straße zu laufen.»

«Meine Anzeige war die erste seit Jahrhunderten», sagt Ottaviano. Der damalige Carabinieri-Kommandant David Ellero, ein vermeintlich kühler Venezianer, ahnte offenbar, dass er Zeuge einer Zeitenwende geworden war. Nachdem sie auf der Wache Anzeige erstattet hatte, küsste er der Geschäftsfrau die Hand.


Das Ende der Duldsamkeit

Dieses Gefühl, dass die Befreiung von der jahrzehntelangen Unterdrückung möglich war, steckte immer mehr Bürger in Ercolano an. Das Leben war unerträglich geworden. Die Gangster fuhren mit Motorrädern durch die engen Gassen des Orts, schwer bewaffnet mit Pistolen oder Kalaschnikows. Nach Sonnenuntergang waren die Straßen wie leergefegt, die Killerkommandos der rivalisierenden Clans begannen ihr brutales Werk, sie zündeten sogar Bomben.

in ihrer Pizzeria ging die Mafia-Bombe hoch


Als auch noch die Wirtschaftskrise dazukam, nahm es mit der Duldsamkeit ein Ende. «Wir sind 55'000 Einwohner», beschreibt Giuseppe Scognamiglio das damals langsam wachsende Bewusstsein. «Wie viele Camorristi gibt es in Ercolano? 400, 500, vielleicht Tausend. Wir sind 55'000! Müssen wir uns das wirklich weiter gefallen lassen?»

Nein, antworteten an einem Samstagabend im November 2009 etwa 1500 Menschen und marschierten durch die Straßen Ercolanos. Junge Aktivisten um Scognamiglio und das Team von Radio Siani hatten den Marsch gegen die Camorra organisiert. Benannt nach dem Journalisten Giancarlo Siani, der 1985 im Alter von 26 Jahren in Neapel von der Camorra ermordet worden war, hatten die Jugendlichen einen Internet-Sender gegründet, dessen Redaktion am Corso Resina 62 ihren Sitz hat.




Hier wohnte der Clanchef Giovanni Birra, hier nahm der Marsch seinen Anfang. In der konfiszierten Wohnung des Bosses, zwischen Türen aus Mahagoni-Holz und exklusiven Sanitäranlagen, kämpft bis heute ein Team von bis zu 40 jungen Erwachsenen für den Wandel in der Kleinstadt.


Giavanni Birra

Das Modell Ercolano nahm Formen an. 2005 war Nino Daniele Bürgermeister der Stadt geworden. Er marschierte nicht nur bei der Demonstration mit, unter seiner Ägide annullierte die Stadt Auftragsvergaben an Firmen aus dem Umfeld der Camorra. Die Gemeinde konstituierte sich als Zivilklägerin bei allen Prozessen wegen Schutzgeld-Forderung und erließ Geschäftsinhabern die Steuern, die ihre Erpresser anzeigten. Auch scheinbar banale Maßnahmen wie die Verbreiterung der Trottoirs wurden ergriffen. Handtaschenräuber auf dem Motorrad haben es seither schwerer bei ihren Raubzügen.

Raffaella Ottaviano hatte den Anfang gemacht. Jetzt folgten in einer Kettenreaktion immer mehr Anzeigen. Der Metzger zeigte seine Erpresser an, die Bäckerin, die Tabakverkäuferin, der Konditor, der Restaurantinhaber, der Automechaniker, der Juwelier, der Fischverkäufer, der Optiker und der Tankstellenpächter. Innerhalb von zwei Monaten war die Antischutzgeld-Vereinigung mit ihrer Präsidentin Raffaella Ottaviano auf 42 Mitglieder angewachsen. Heute sind es über 80 Geschäftsleute.
Prozess folgte auf Prozess.

Um mildere Haftstrafen zu erzielen, begannen die Mafiosi mit der Justiz zu kollaborieren. Erst packten sie über die Pizzo-Erpressungen aus, dann über die Morde. Heute sitzt die gesamte Führungsriege der Camorra-Clans von Ercolano hinter Gitter, etwa 250 Männer und ein paar Frauen. Erpressungen, so sind sich alle Beteiligten sicher, gibt es so gut wie nicht mehr in Ercolano. Das, was von der Camorra übrig blieb, entspreche gewöhnlicher Kleinkriminalität.


Wachsam bleiben

 

«Ercolano ist wieder aufgeblüht», sagt Sofia Ciriello. Vor dem Laden der 38-Jährigen zündeten die Bosse im November 2009 eine Bombe, nachdem sich die Bäckermeisterin geweigert hatte, einen Pizzo von 500 Euro monatlich zu zahlen. Verletzt wurde niemand. Aber man versteht, dass das lebendige Gewühl auf den Bürgersteigen von Ercolano nach Jahren der Gewalt nicht selbstverständlich ist. «Heute überlegen es sich die Camorristi zweimal, bevor sie meinen Laden betreten», sagt Ciriello. 


Mario Cutolo

Auch Matteo Cutolo, der eine Konditorei am Corso 4 Novembre führt, zeigte seine Erpresser an. Nach ein paar Anläufen, Geldforderungen von beiden Clans und drei Einschusslöchern im Rollladen seines Geschäfts rang er sich schließlich dazu durch. Zusammen mit der Antischutzgeld-Vereinigung erzählt Cutolo seine Geschichte auch in den Schulen von Ercolano. «Das Wichtigste ist, wachsam zu bleiben», sagt der 40-Jährige. Einige Bosse sind zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden. «Aber viele andere kommen irgendwann wieder raus.»
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