Donnerstag, 27. November 2014

Italien versetzt Geldfälschern einen Tiefschlag

Acht von zehn Euro-Blüten kommen aus Neapel. Die fast perfekten Fälschungen werden für die gesamte Eurozone zur Gefahr. Nun greift Italiens Polizei hart durch – doch die Fälscher kennen einen Ausweg.




Allein schon bei den Codewörtern beweisen sie Einfallsreichtum. "Botschaft", "Schuhe", "Gnocchi", "Ansichtskarte" oder einfach nur "Cosariello", was so viel heißt wie "kleine Sache".

Gemeint ist damit aber nicht ein kleines nettes Geheimnis, sondern schlichtweg Falschgeld. Die Fälscherbanden Neapels unterhalten sich so am Telefon über Blüten und gezinkte Münzen, um nicht die Polizei zu alarmieren. Diskret und unauffällig soll es zugehen. Sie wollen nicht gestört werden.

Das funktioniert aber Gott sei Dank nicht immer. Die italienische Polizei hat am Mittwoch einen großen Fälscherring ausgehoben. Einheiten aus Rom und Neapel schweiften in der Nacht aus. 56 Personen wurden festgesetzt. 29 wanderten direkt ins Gefängnis, zehn wurden unter Hausarrest gestellt. Die restlichen 17 müssen sich ab sofort regelmäßig auf der Wache präsentieren.


"Napoli Group" – so nennen sich die Fälscher

"Das ist ein harter Schlag gegen die Napoli Group", sagte Francesco Ferace, der Leiter der Anti-Fälschungseinheit der italienischen Carabinieri, auf einer Pressekonferenz im Gebäude der Staatsanwaltschaft Neapel. "Napoli Group" – so werden die berühmtesten Geldfälscher Europas genannt. "Hier geht es nicht nur um Italien. Das ist von Interesse für die gesamte Euro-Zone. Das Fälschen ist ein Problem außerordentlichen Ausmaßes", sagte Ferace.


Francesco Ferace, der Leiter der Anti-Fälschungseinheit der italienischen Carabinieri


Neapel ist Blüten-Exportweltmeister. Nach Schätzung der italienischen Finanzpolizei Guardia di Finanza entfällt rund die Hälfte der Euro-Blüten auf die "Napoli Group". Rechnet man noch die Blüten dazu, die aus dem Verkehr gezogen wurden, dann kommt man laut Angaben von Europol auf einen astronomischen Wert von 80 bis 90 Prozent.

Für die Euro-Zone ist das Treiben im Süden Italiens eine ernsthafte Bedrohung. 18 Länder haben inzwischen den Euro eingeführt. Litauen kommt am 1. Januar 2015 als 19. Land dazu. Geldscheine und Münzen zirkulieren also frei über Ländergrenzen in einem sich ausdehnenden Gebiet hinweg. Das bedeutet: Falschgeld kann besser in Umlauf gebracht werden und wandert weit.


Das Fälschen hat hier Tradition

In und um Neapel, genauer gesagt in der Gegend um Giugliano im nördlichen Hinterland, hat das Fälschen Tradition. Frühere Buchdrucker, die ihre Arbeit verloren haben, haben sich mit dem Blütenmachen ein neues Auskommen gesichert. Ihr Können geben sie an nachfolgende Generationen und – besorgniserregend – an Fälscher in anderen Ländern weiter.




Dass Neapel ein Fälscherparadies ist, das ist seit Langem bekannt. Das Kino wurde bereits in den 50er-Jahren auf die Fälschergenies aufmerksam. "La Banda degli onesti" heißt der Streifen aus dem Jahr 1956. Neapels Kultfigur Totò versucht mit zwei Freunden, Lire-Banknoten zu drucken. Am Ende jedoch entscheidet sich das Trio, das Betrügen sein zu lassen.

Die wirkliche "Napoli Group" kennt hingegen keine Reue. Experten bezeichnen die 20-Euro-Scheine aus neapolitanischer Fertigung als kleine Meisterwerke. Seit 2002 bis heute wurden in Europa rund fünf Millionen Blüten sichergestellt. Es wird geschätzt, dass fünfmal mehr noch im Umlauf sind.

Auch andere Länder fälschen. In Frankreich, in Spanien, in Südamerika, zuletzt auch in Litauen, wurden illegale Notenpressen ausgehoben. Doch spricht man mit Experten, lautet das einhellige Urteil: Die Qualität der Napoli Group ist bislang unerreicht.


Die Napoli Group deckt die ganze Wertschöpfungskette ab

Die aktuelle Operation der italienischen Polizei zeigt, wie gefährlich die Napoli Group ist. Sie ist straff organisiert und gleicht einer Konzernholding. Die Ermittler sprechen von elf Gruppen, die neben der Produktion vier Aufgaben abdecken würden.

Das sind: das Einlagern der Blüten, der Vertrieb über den Großhändler, der Vertrieb an den Endkunden bis hin zum Endkunden selbst, der im Wissen, Falschgeld in Händen zu halten, mit den Blüten auf Shoppingtour geht. Um es im Jargon der Unternehmensberater auszudrücken: Die Napoli Group deckt die gesamte Wertschöpfungsstufen ab, sie ist vertikal integriert.

(siehe auch mein Berichthttp://mancini-books.blogspot.de/search?q=Geldf%C3%A4lscher )

Bei der Operation wurde eine Offset-Druckerei in Neapel und eine Prägestelle für Münzen in Gallicano in der Region Latium ausgehoben. Insgesamt wurde Falschgeld im Wert von einer Million Euro sichergestellt. Das klingt nach wenig. Aus Sicht der Ermittler besteht der eigentliche Erfolg aber darin, das Vertriebsnetz der Napoli Group durchlöchert zu haben.


Die Fälscher wandern einfach in andere Länder aus

Nicht nur die italienischen Ermittler, sondern auch die europäischen Institutionen nehmen den Kampf gegen die Fälscher an. Die Europäische Zentralbank (EZB) brachte im September die neuen 10-Euro-Scheine in Umlauf. Wie der neue Fünf-Euro-Schein verfügt die Banknote nach Angaben der EZB über verbesserte Sicherheitsmerkmale.

Im Hologramm und im Wasserzeichen der neuen Banknote ist ein Porträt der Europa zu erkennen. Der Geldschein ist zudem mit einer Smaragd-Zahl ausgestattet. "Beim Kippen des Scheins wird auf dieser glänzenden Zahl ein Lichtbalken sichtbar, der sich auf und ab bewegt. Außerdem verändert die Zahl ihre Farbe von Smaragdgrün zu Tiefblau", schreibt die EZB auf ihrer Webseite.

Im Mai 2014 brachte die EU zudem eine Direktive (2014/62/EU) auf den Weg, die den Kampf gegen Fälscher über Grenzen hinweg vereinheitlicht. Die Mitgliedsländer müssen zukünftig Mindeststandards einhalten. Zudem wird das Strafmaß für Fälscher angepasst. Das soll dabei helfen, die Gesetzeslücken in Europa zu schließen.

Reicht das aus? Wohl kaum. Die Napoli Group gibt sich jedenfalls nicht geschlagen. Weil es ihr in Neapel selbst zu heiß wird, verlagert sie die Produktion ins Ausland, beispielsweise in osteuropäische Länder wie Rumänien. Denn wie jede moderne Organisation, ist auch die Napoli Group äußerst mobil. Zynisch könnte man sagen: Sie achtet auf die Standortqualität.



Camorra-Boss Valentino Gionta in Neapel gefasst

Der Camorra-Boss Valentino Gionta, der in Italien zu den meistgesuchten Kriminellen zählte, wurde am Donnerstag in Torre Annunziata bei Neapel festgenommen.




Der Camorra-Boss hatte sich in einer Wohnung versteckt, berichtete die Polizei. Er leistete bei seiner Festnahme keinen Widerstand.

Gionta, dem unter anderem Erpressung und zahlreiche weitere Verbrechen vorgeworfen werden, hatte sich im Juni einer Festnahme entzogen.


Er stand an der Spitze des prominenten Mafia-Clans „Gionta“, der auf Drogen- und Waffenhandel spezialisiert ist.
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Mittwoch, 26. November 2014

Italien / Staatsgewalt unter Beschuss



Von Jan-Christoph Kitzer

Der Zustand der Justiz in Italien ist desolat. Das öffentliche Ansehen hat in der Ära von Silvio Berlusconi nachhaltig gelitten, Strafen werden häufig nicht vollstreckt und einige Richter stehen unter dem permanenten Druck der Mafia.

"Io sono innocente!"
"Sono oggetto delle attenzioni dei PM e dei giudici ideologizzati che sono una metastasi della nostra democrazia!"
"Questi PM die Milano, che hanno prodotto questi tentativi di eversione sono ancora li a ripetere il tentativo dell'eversione! Gli stessi contro lo stesso cittadino! Questo e una patologia! E un cancro della nostra democrazia che dobbiamo levare!"
"Io non ho commesso alcun reato. Io non sono colpevole di alcunché. Io sono innocente! Io sono assolutamente innocente!"





Silvio Berlusconi, immerhin der am längsten amtierende Regierungschef des modernen Italien hält sich immer noch für innocente, für unschuldig. Obwohl er im Sommer 2013 als Steuerbetrüger rechtskräftig verurteilt wurde. In über 20 Jahren, in denen er die politische Szene Italiens geprägt hat, und bis zum heutigen Tag hat er Richter und Staatsanwälte beschimpft, sie als Krebsgeschwür, als Metastasen der Demokratie bezeichnet. Das hat das Verhältnis der Italiener zu ihrer Justiz nachhaltig geprägt. Umfragen zufolge hat nicht einmal die Hälfte Vertrauen in die Justiz, fast jeder meint, das System müsse besser funktionieren.

Wie schwer die Suche nach der Wahrheit ist, kann man gerade in Palermo erleben. Dort steht die so genannte Aula Bunker, ein riesiger Gerichtssaal der höchsten Sicherheitsstufe. Hier fanden schon in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts die großen Mafia-Prozesse statt. Und in diesen Tagen geht es um eine besonders heikle Frage: haben Vertreter des italienischen Staates Anfang der 90er-Jahre Absprachen mit der Mafia getroffen? Gab es einen Deal: weniger Verfolgung durch die Behörden gegen weniger Morde der Mafia? In diesem Prozess hat der italienische Staat quasi sich selbst auf die Anklagebank gebracht. Der Chefankläger ist Nino Di Matteo, 53, graue Haare. Er hat große Erfahrung als Anti-Mafia-Staatsanwalt. Frei bewegen kann er sich schon lange nicht mehr. Ihn zum Interview zu treffen ist alles andere als einfach:




"Ich lebe jetzt schon seit 20 Jahren mit einer Eskorte. Ich werde den Leuten, die mich geschützt haben und schützen, immer dankbar sein, aber wenn das Leben des zu Schützenden dadurch so entscheidend beeinflusst wird wie bei mir, dann kommt einem schon der Gedanke: In bestimmten Momenten leiden wir unter mehr Einschränkungen als die Mafiosi. Und vor allen Dingen müssen auch unsere Verwandten, die uns umgeben, diese Freiheitseinschränkungen ertragen."


Ganz konkrete Bedrohung

Die Bedrohung gegen Nino di Matteo ist sehr konkret. Sein Chef hat neulich im schwer bewachten Justizpalast von Palermo einen Zettel auf seinem Schreibtisch gefunden, auf dem stand: „Wir kriegen Dich, überall!". Die Mitschnitte der Videokameras, die sein Büro überwachen, sind für den fraglichen Zeitraum, seltsamerweise verschwunden – eine technische Panne, heißt es. Di Matteo selbst wird von Toto Riina, dem legendären Cosa Nostra Boss bedroht. Aus dem Gefängnis gab er vor kurzem seinen Mordauftrag: „Deve fare la fine del tonno", er muss enden, wie ein Thunfisch: in die Enge getrieben, abgestochen. Die Angst, ermordet zu werden, gehört zu seinem Leben als Staatsanwalt:




Nino Di Matteo: "Wenn ich das verneinen würde, wäre ich nicht ehrlich. Ich glaube, dass die Angst, mich und vor allem meine Familie Rache- und Vergeltungstaten ausgesetzt zu sehen, menschlich ist und sie befällt mich oft. Aber Paolo Borselino sagte: "Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst. Er ist das Bewusstsein, dass es Gefühle gibt, die dich vorantreiben und dich die Angst überwinden lassen. Der Beruf, den wir ausüb-en, und auch der Respekt für die vielen unserer Kollegen, die getötet worden sind, zwingt uns weiterzumachen, ohne uns von der Angst einschüchtern zu lassen."


Nino Di Matteo


Paolo Borsellino, seinem Vorgänger in Palermo, hat der Mut nichts genützt: er wurde 1992 vor dem Haus seiner Mutter von einer Autobombe getötet. Fünf aus seiner Eskorte starben an jenem Tag mit ihm. Es gibt die Sorge, dass die Zeit der Mordanschläge wieder kommt. Und das liegt auch an dem Prozess, in dem Nino di Matteo in Palermo der Ankläger ist, und der ihn konkreter Gefahr aussetzt. Druck bekommt er von zwei scheinbar verschiedenen Seiten:


Großer Druck lastet auf der Justiz

Nino Di Matteo: "Es gibt eine Gewissheit: Diese Drohungen gegen mich und einige meiner Kollegen, die sich mit demselben Thema beschäftigen, kommen sowohl aus der Welt der Mafia als auch - besonders was die anonymen Schreiben und Briefe betrifft - aus Kreisen, die nicht mafiös erscheinen. Sie scheinen aus institutionellen oder halbinstitutionellen Kreisen zu kommen."

Und so hart die Wirklichkeit von Nino di Matteo ist, der Anti-Mafia-Staatsanwalt aus Palermo steht für den großem Druck, dem die italienische Justiz in den letzten Jahren zunehmend ausgesetzt ist. Qua Verfassung ist die Justiz eine der tragenden Säulen eines demokratischen Staates. In Italien ist die Justiz in den letzten Jahren kontinuierlich geschwächt worden, nicht zuletzt von der Politik.

In Italien jemanden zu finden, der auf die Justiz, auf Richter und Staatsanwälte schimpft, ist nicht besonders schwer.

Man kann zum Beispiel nach Mailand fahren. Mario Caizzone hat hier einen Verein gegründet: den „Italienischen Verein der Opfer der schlechten Justiz". Der Mann ist ein Kämpfer, das zeigt nicht nur seine kräftige Statur, der forsche Blick, das zeigt auch der Blick in seine Gerichtsakten. Caizzone ist Kaufmann und Steuerberater und er hat sich mit der Finanzpolizei angelegt: als er angezeigt hat, dass Finanzbeamte in einer der von ihm betreuten Firma Schmiergeld verlangt hatten, wurde er in ein langes Verfahren gezogen, wegen Rufmord:

Mario Caizzone


Mario Caizzone: "1994 ist das Verfahren eröffnet worden. 1998 habe ich drum gebeten, mir den Prozess zu machen. Ich hatte ein Recht auf einen Prozess ohne Vorverfahren, ich erinnere mich, ich hatte Weihnachten 1994 diesen Antrag gestellt. Den Prozess haben sie dann 2005 begonnen. Nach dem ersten Richterspruch, nach fast 20 Jahren war dann alles verjährt. Da ich aber keinerlei Schuld trug, habe ich auf die Verjährung verzichtet. Trotzdem hat alles fast 22 Jahre gedauert."


"Ich habe alles verloren"

Und alles endete mit einem Freispruch, im letzten Frühjahr. Mario Caizzone ist stolz darauf, wieder eine weiße Weste zu haben. Aber in all den Jahren musste er nicht nur zehntausende Euro für Anwälte und für insgesamt fünf Prozesse ausgeben, lange Jahre konnte er nicht arbeiten, seine ganze Existenz war zerstört – obwohl er erwiesenermaßen unschuldig war.

Mario Caizzone: "Ich habe meine Arbeit verloren. Ich hatte ein Büro in Mailand und eines in Rom. Ich habe alles verloren. Ich musste schließen, ich war vier Monate im Hausarrest. Ohne jeglichen Grund. Ich habe meine Freunde verloren. Ich habe die 20 Jahre nur durchgehalten, weil meine Familie mich großzügig unterstützt hat. Ein anderer hätte das nicht gekonnt. Am Tag der Anklage haben die Kunden mich verlassen und ich musste die Mitarbeiter nach Hause schicken. Sie haben mein Leben zerstört."

Silvio Berlusconi und seine Schimpftiraden auf die Justiz kann er ganz gut verstehen – auch wenn er ihm vorwirft, als Regierungs-Chef nichts dafür getan zu haben, dass die Italienische Justiz besser wird. Dass Italiens Justiz alles andere als effizient ist, sagt nicht nur Mario Caizzone – das ist auch das Ergebnis einer Studie des Europarates, in der über 40 Länder verglichen wurden: nirgendwo in Europa dauert es zum Beispiel länger bis ein Bankrottverfahren entschieden ist.

Im Schnitt vergehen 2.648 Tage, fast siebeneinhalb Jahre! Unternehmer, die auf das Geld von ihren Schuldnern angewiesen sind, gehen in dieser Zeit oft selber pleite. Bis ein Urteil in einem Strafrechtsprozess fällt, dauert es im Schnitt 4 Jahre und neun Monate. Im „Verein der Opfer der Schlechten Justiz" in Mailand kennen sie diese Zahlen, aber nicht nur deshalb hält Mario Caizzone nichts von den italienischen Richtern und Staatsanwälten. Über 1.000 Menschen haben sich schon verzweifelt an den Verein gewandt, über 1.000, die sich als Justizopfer fühlen.

Mario Caizzone: "Das Rechtssystem in Italien funktioniert nur für wohlhabende Leute, die sich einen guten Rechtsanwalt leisten können. Wer nicht genug Geld hat, um einen guten Rechtsanwalt zu bezahlen, ist schwach. Das System ist stark gegenüber den Schwachen und stark mit den Mächtigen."


Rattenplage im Berufungsgericht

In einer Stadt im Norden treffen wir Maria, eine junge Strafrichterin. Sie heißt eigentlich anders. Sie will auch nicht sagen, wo genau Sie arbeitet. Nur so viel: sie hat auch mit organisierter Kriminalität, also mit der Mafia, zu tun. Und sie hat viel zu tun. Vor kurzem konnte man von ihren Kollegen am Berufungsgericht in Rom lesen, die übel dran sind. In ihrem Gebäude gibt es eine Rattenplage. Außerdem ist das Trinkwasser mit Legionellen verseucht. Auch so kann man die Justiz lahm legen. Maria, in Norditalien, ist besser dran, aber ihr Beispiel zeigt, warum Italiens Gerichte überlastet sind:




Maria, Richterin: "In jeder Gesellschaft, in der du eine intellektuelle Arbeit machst, kannst Du normalerweise die Recherchen delegieren, du hast Mitarbeiter. Der italienische Richter nicht. Wenn du juristisch etwas vertiefen musst, wenn du komplexe Nachforschungen machen musst, kannst Du das an niemanden delegieren. Du musst es selbst machen. Es gibt keinen Beamten, der Dich unterstützt, du musst dir sogar die Akten selber holen."

Und die Arbeit, die Maria erwartet, ist beängstigend: laut der Studie des Europarates gab es Ende 2012 4.650.000 schwebende Zivilverfahren, und fast 1,5 Millionen Strafverfahren waren nicht entschieden.

Maria, Richterin: "Eines der Probleme ist meiner Meinung nach das Missverhältnis zwischen dem Bedarf an Rechtsprechung und dem Angebot. Das ist ein Problem des Systems. Da gibt es Unterschiede zwischen Zivil- und Strafrecht. Sicherlich gibt es viel Streitsucht, die in der Gesellschaft nicht anders ausgelebt werden kann - und so suchen die Leute ein Ablassventil in den Prozessen."


Wenn die Strafe zu mild ist, rufen die Bürger "Schande!"

Wenn wieder ein Fall in die Verjährung gekommen ist, nach langen Gerichtsverfahren, an deren Ende kein Schuldiger steht und wenn die Strafe in den Augen vieler zu milde ausfällt, dann entlädt sich der Zorn der Bürger, dann rufen sie Vergogna – Schande.

In Palermo, auf Sizilien, kann man sehen, dass es auch anders geht. Nach den Morddrohungen gegen die Anti-Mafia-Staatsanwälte haben sie dort einen Verein gegründet: Scorta civica, was man mit Bürger-Eskorte übersetzen könnte. Sie wollen zeigen, dass es Bürger gibt, die eine starke Justiz wollen – und sie wollen den Vertretern dieser starken Justiz den Rücken stärken. Sie kommen, wenn es geht, wenn zum Beispiel Nino Di Matteo irgendwo auftritt, sie versuchen, so oft es geht, im Gerichtssaal zu sein, bei den Verhandlungen – damit die Ermittler nicht allein dastehen. Linda Grasso ist fast immer dabei. Es gab schon Versuche, auch die Leute von Scorta Civica einzuschüchtern. Deutliche Hinweise, dass sie sich auf gefährlichem Terrain bewegen. Aber Linda Grasso und ihre Mitstreiter lassen sich nicht einschüchtern:

Linda Grasso: "Ja, aber wir werden da sein! Wir geben nicht auf! Wir sind da und werden immer da sein!"

Sie hat schon zu viel erlebt, um Vertrauen in Italiens Justiz zu haben. Linda Grasso versucht die zu unterstützen, die versuchen, aus diesem maroden System das Beste zu machen – aber ist Italien so gesehen überhaupt noch ein Rechtsstaat?


Linda Grasso


Linda Grasso: "Ja, theoretisch ja. Ein Rechtsstaat! Wir sind der Mafia ausgeliefert. Eigentlich haben alle Gewalt über uns, außer denen, die es sollten."

Im großen Verhandlungsbunker des Gerichts von Palermo versucht der Staat derweil Verstrickungen des Staates mit der Mafia aufzuklären. Neulich musste sogar der greise Staatspräsident Napolitano aussagen. Nino Di Matteo hatte darauf bestanden – und war wieder einmal heftig angegangen worden. Vielleicht wird in einem Jahr ein Urteil gesprochen, vielleicht dauert es auch länger. Und sicher kommt noch eine weitere Instanz, die alles wieder kippen könnte.

Bei dem Prozess werden Bosse der Mafia aus Ihren Gefängnissen zugeschaltet, aus denen sie immer noch ihre Mordbefehle erteilen. Zeugen werden diskreditiert, der Prozess mit sinnlosen Anträgen blockiert. Dieser Prozess, in dem der Staat auch sich selbst auf die Anklagebank gebracht hat, ist sinnbildlich für Italiens Justiz. Unten steht Nino Di Matteo, der Staatsanwalt. Zusammen mit seinem Team ist er ein Symbol dafür, dass es noch Hoffnung gibt für den Rechtsstaat Italien.

Nino Di Matteo: "Viele Bürger wollen wirklich eine schnelle, effiziente Rechtsprechung, die auf niemanden Rücksicht nimmt, die alle gleich behandelt, so wie das unsere Verfassung vorsieht. Auf dem Gebiet der Politik und der Gesetzgebung ist aber noch nicht alles gemacht worden, was zu tun wäre, um das Grundrecht der Gleichheit aller vor dem Gesetz umzusetzen. Ich träume davon, dass unsere Verfassung, die ich zu den besten der Welt zähle, nicht so sehr reformiert, sondern vor allem angewandt wird."


Dienstag, 25. November 2014

Endlich…, Enkeltrick-Mafia vor Gericht

Die Bande um Arkadiusz L., genannt "Hoss", hat fast 100 alte Menschen um ihr Geld gebracht, mitunter um ihr gesamtes Erspartes. Die Masche des Clans war so perfide wie effektiv: Am Telefon täuschten die Betrüger ihren arglosen Opfern vor, sie seien Verwandte, befänden sich in einer finanziellen Notlage und benötigten daher sehr schnell sehr viel Geld.



Es war Arkadiusz L., 46, der diesen als "Enkeltrick" bekannt gewordenen Betrug vor 15 Jahren erfunden, perfektioniert und ein internationales Netzwerk mit mafiaähnlichen Strukturen geschaffen hat. Die Geschäfte liefen gut – bis Ende Mai 2014 der deutschen und polnischen Polizei ein spektakulärer Schlag gelang. 14 Bandenmitglieder wurden in beiden Ländern festgenommen, darunter Clanchef Arkadiusz L. Allein fünf Enkeltrickbetrüger wurden in Hamburg gefasst. Seit Montag stehen diese fünf wegen Betrugs vor dem Landgericht. Weitere Prozesse laufen parallel in Hannover, Essen und Berlin.




Eine Justizbeamtin führt Zofia K. am Montag in Handschellen in den Gerichtssaal. Auf dem Papier ist sie erst 63 Jahre alt, doch sieht die mutmaßliche Betrügerin viel älter aus – ironischerweise eher wie ein typisches Opfer der Bande. Die gebrechliche Frau sei, so ihr Verteidiger, nicht verhandlungsfähig. Sie habe schizophrene Schübe und eine akute Herzkrankheit. Der vorsorglich hinzugezogene Notarzt widerspricht, und der Vorsitzende Richter entscheidet: Es wird verhandelt.

Elf Fälle des hinterlistigen Enkeltrickbetrugs legt die Staatsanwaltschaft den fünf Angeklagten, von denen wenigstens drei zur selben Großfamilie gehören, zur Last. In wechselnder Beteiligung, teils unter Mithilfe von Bandenchef "Hoss", konnten sie zwar nur vier Rentnern Geld abknöpfen, dafür aber Summen zwischen 7000 und 42.000 Euro. Siebenmal scheiterten die Täter, weil ihre Opfer oder Bankmitarbeiter Verdacht geschöpft hatten.

Die Enkeltrickbetrüger hatten es ausschließlich auf alte Leute abgesehen und gingen stets nach dem gleichen Strickmuster vor: Zunächst durchforsteten sie Telefonbücher gezielt nach altmodisch klingenden Vornamen wie Irmgard, Ilse oder Gottfried, dann rief von Polen aus der sogenannte "Keiler" die Opfer an und tischte ihnen eine Lügengeschichte auf. In den angeklagten Fällen war es Marcin, genannt "Lolli", der Sohn von Bandenchef Arkadiusz L.



Hatten die alten Menschen angebissen, wurde der "Logistiker" als vermittelnde Instanz dazu geschaltet. In Hamburg soll der Angeklagte Johnny K., 32, diesen Job übernommen haben. Der "Logistiker" lotste die "Abholer" zu den Übergabeorten. Sie waren das letzte Glied in der Nahrungskette. Die kleinen Fische mit dem höchsten Entdeckungsrisiko – so wie Martin K., 39.

Die 81 Jahre alte Thea B. aus Alsterdorf stand im August 2012 als Erste auf der Liste der Betrüger. "Lolli", der "Keiler", gab sich am Telefon als Bruder der Rentnerin aus: Er benötige 12.000 Euro, um einen finanziellen Engpass zu überbrücken. Die alte Dame wollte die Summe schon abheben, als eine Bankerin misstrauisch wurde und beim "echten Bruder" der Frau anrief – so flog die Scharade auf. Ein 92-jähriger Mann hatte weniger Fortune: Mit der Mär vom Neffen, der Geld benötige für einen Grundstückskauf, brachten die Betrüger den Mann um 25.000 Euro. In zwei Fällen fungierte Bandenchef Arkadiusz L. selbst als "Keiler". So gab er sich gegenüber Waltraud F., 79, als Neffe Peter aus. Die Rentnerin kaufte ihm die Geschichte ab, übergab der "Abholerin", der angeklagten Zofia L., das Geld. Dabei wurde die 63-Jährige von Polizisten beobachtet und festgenommen.




In den meisten Fällen waren es sogar die Betrüger, die den Zielpersonen auf den Leim gingen. Nur zum Schein stiegen sie auf ihre Legenden ein, spielten die gutgläubigen Opfer. So wie Erika B., 85, aus Alsterdorf. Wie mit dem "Keiler" besprochen, ging sie zur Bank, um Goldbarren im Wert von 65.000 Euro abzuholen. Alles nur Show: Tatsächlich wurden unter Beobachtung der Polizei Metallplatten in die Tasche gelegt.

Die Falle schnappte zu, als Abholer Martin K. zum Übergabeort kam. Danach wurde die Bande vorsichtiger: Um herauszufinden, ob die Polizisten eingeschaltet waren und gerade mithörten, gaben sie sich am Telefon als Polizisten aus – mit der Bitte, den Hörer mal eben an den Kollegen weiterzureichen. Kamen die Opfer dem nach, bliesen die Betrüger den Coup ab.

Etwa die Hälfte der Beute soll nach Polen transferiert worden sein. Mit dem Geld führte Clanchef "Hoss" ein ausschweifendes Leben. Partys schmiss er in Schlössern, in der Tiefgarage seiner Warschauer Immobilie stand sein roter Ferrari. Für den Rest der Großfamilie blieb genug übrig: Bandenmitglieder führten mit dem ergaunerten Reichtum ein Leben in Protz und Prunk.




Bei der Razzia im Mai stellte die Polizei in den Wohnungen der Verdächtigen Luxusuhren von Rolex und Cartier sicher, Meißner Porzellan im Wert von 20.000 Euro, Pelzmäntel, Taschen von Versace und Silberbesteck. Die Ermittler machen die Bande für rund 100 Fälle mit einer Schadenssumme von 1,5 Millionen Euro verantwortlich, 30 Taten spielten in Hamburg. "Hoss", der nicht mehr in U-Haft sein soll, wird sich vom Frühjahr an in Polen vor Gericht verantworten müssen.




In Hamburg wird im Dezember ein Urteil erwartet. Gericht und Verteidiger berieten am Montag aber über eine Verständigung, die den Prozess verkürzen und eine mildere Strafe im Gegenzug für ein Geständnis bewirken könnte.