Freitag, 31. Oktober 2014

Mexikos Regierung unter Zugzwang

Iguala hat sich in das kollektive Gedächtnis Mexikos eingebrannt. Das Massaker dort hat die internationale Wahrnehmung des Landes verändert. Doch verändert es auch den Kampf gegen organisierte Verbrechen?




"Der Druck auf die mexikanische Regierung hat zugenommen", meint Olaf Jacob, Teamleiter für die Region Lateinamerika bei der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Berlin. Seit Iguala stünde Mexiko in der Öffentlichkeit unter intensiver Beobachtung. "Eine kontinuierliche Berichterstattung über ein Thema aus Mexiko über einen langen Zeitraum - so etwas gab es bisher noch nicht."

Die mexikanische Botschaft in Berlin hat auf die Lage reagiert. Seit kurzem kümmert sich dort der Diplomat Cristóbal González um den Bereich Menschenrechte und Zivilgesellschaft. Um für Verständnis in der deutschen Öffentlichkeit zu werben, bereitet er für Dezember den Besuch eines hochrangigen Mitglieds der mexikanischen Regierung vor. Um welchen Politiker es sich dabei handelt, ließ González im Gespräch mit der DW offen.


"Iguala - Wiege von Mördern" - Studenten-Protest an einer Autubahnmautstation


In der Ortschaft Iguala waren in der Nacht vom 26. auf den 27. September 43 Lehramtsstudenten verschwunden. Offiziell gelten sie noch als "vermisst". Doch es wurden bereits sechs Massengräber mit 28 verkohlten Leichen entdeckt. Am 9. Oktober wurden vier weitere Gruben mit menschlichen Überresten aufgefunden. Bis jetzt wurden 56 Tatverdächtige festgenommen, darunter Polizisten, städtische Sicherheitskräfte und Kriminelle aus dem Drogenmilieu.


Empfang beim Präsidenten

Um die Beschwerden über die schleppenden Ermittlungen auszuräumen, empfing Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto am 29. Oktober erstmals Angehörige der Opfer in seiner Residenz "Los Pinos". Peña Nieto versprach ihnen mehr Unterstützung sowie tägliche Informationen zu dem Stand der Ermittlungen. In der Öffentlichkeit erhob der Präsident die Aufklärung des Massakers zu seiner politischen Priorität.


Verspricht Aufklärung: Präsident Enrique Peña Nieto


Bei den Angehörigen jedoch überwiegt weiterhin die Skepsis. So bestanden sie darauf, Forensiker aus Argentinien an den Ermittlungen zu beteiligen, weil sie den mexikanischen Behörden misstrauten. Dies wiederum führte zu weiteren Verzögerungen. Da die meisten in den Massengräbern gefundenen Leichen verkohlt waren, dauern die DNA-Analysen zur Identifizierung der Toten länger als erwartet.

"Ich bin nicht gekommen, um den Präsidenten um einen Gefallen zu bitten, sondern um berechtigte Forderungen zu stellen", erklärte der Vater eines Opfers nach dem Besuch vor der mexikanischen Presse. "Ich dachte, die Regierung wäre effizienter, aber sie macht nur zehn Prozent von dem, was ich mir vorgestellt habe", fügte er enttäuscht hinzu.


Entfesselte Gewalt

Nach Ansicht von Experten durchläuft Mexiko zurzeit eine ähnlich schwierige Phase wie Kolumbien in den 90er Jahren. "Die Kartelle in Mexiko treten in besonderem Maße gewaltsam auf, mit einer Brutalität, die man nur als entfesselte Gewalt bezeichnen kann", erklärt Günther Maihold, stellvertretender Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, der zurzeit zum Thema organisierte Kriminalität am Wilhelm und Alexander von Humboldt-Lehrstuhls in Mexiko forscht.

Grund dafür sei vor allem die Fragmentierung der Kartelle. "Die Zersplitterung hat die Zahl der Gewaltakteure vervielfältigt und die Konkurrenz um die Transitrouten und Vertriebswege verschärft", erläutert Maihold.


Ordnungsgaranten oder Komplizen der Drogenmafia? Mexikos Bevölkerung hat kaum Vertrauen in ihre Sicherheitskräfte


Edgardo Buscaglia, Experte für Wirtschaftskriminalität an der Colombia University, will nicht mehr länger untätig zusehen. Er ruft zu Massenprotesten auf: "Die Zivilgesellschaft muss auf die Straße gehen, so wie 1989 in Kolumbien nach der Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Luis Carlos Galán durch die Drogenmafia", erklärt er. Nur Massenproteste könnten langfristig eine Reinigung des mexikanischen Staates erzwingen.


Parlament in der Pflicht

Buscaglia forderte zudem das mexikanische Parlament auf, Gesetze zu verabschieden, die Verbindungen von politischen Verantwortungsträgern zu kriminellen Vereinigungen erschweren. "Wir müssen die Vorteilsnahme und den Missbrauch von öffentlichen Geldern unter Strafe stellen, so wie dies bereits in Deutschland, Japan, Frankreich und Kanada geschieht", sagte er im Gespräch mit der DW.


Günther Maihold gibt sich zurückhaltender. "In Mexiko haben sich Korruption und organisiertes Verbrechen in den Strukturen des Staates eingenistet. Eine plötzliche Wende ist nicht zu erwarten sein", meint er.


Nach Angaben Maiholds unterstützen Kolumbien und die USA Mexiko bereits bei der Reform der Polizei. "Das Hauptproblem ist die Verteilung", meint Maihold. "Die Erweiterungen im Fähigkeitsprofil der Polizeikräfte finden meist auf der Ebene der Bundespolizei und in einigen Bundesstaaten statt." Nötig sei aber vor allem die Unterstützung der lokalen Polizei, die am meisten vom organisierten Verbrechen unterwandert werde.
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Schweizer Regierung wusste nichts von der Mafia

Die Thurgauer Regierung hat nichts gewusst von einer Mafia-Zelle im Thurgau. Sie habe davon aus den Medien erfahren, erklärt sie jetzt.

«Der Regierungsrat verfügte über die fragliche Mafia-Zelle im Thurgau über diejenigen Kenntnisse, die in den Medien verbreitet worden sind», schreibt der Thurgauer Regierungsrat am Freitag in der Antwort auf eine Einfache Anfrage von SVP-Kantonsrat Hermann Lei.


Verhaftungen in Thurgau


Deshalb habe sich der Thurgauer Justizdirektor am 3. September zusammen mit dem Generalstaatsanwalt und dem Polizeikommandanten mit dem Bundesanwalt und dem zuständigen leitenden Staatsanwalt des Bundes zu einem Austausch über die N'drangheta-Ermittlungen in der Schweiz getroffen.

Der Regierungsrat unterstütze die gute Zusammenarbeit der Thurgauer Strafverfolgungsbehörden mit der Bundesanwaltschaft und der Bundeskriminalpolizei. Diese habe es ermöglicht, in Italien einzelne mutmaßliche N'drangheta-Mitglieder zu verhaften.

«Es ist davon auszugehen, dass die italienischen Behörden bezüglich weiterer mutmaßlicher N'drangheta-Mitglieder die rechtshilfeweise Auslieferung von der Schweiz nach Italien beantragen werden», heißt es weiter.

Einen Entzug der Aufenthaltsbewilligung von Mitgliedern krimineller Organisationen könne das Migrationsamt erst nach einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung prüfen, schreibt die Regierung auf eine entsprechende Frage von Lei.

Eine Ausbürgerung komme nur in gravierenden Fällen, zum Beispiel gegenüber einem verurteilten Kriegsverbrecher oder bei einem Terroranschlag, in Frage. Seit Inkrafttreten des Bürgerrechtsgesetzes im Jahr 1953 sei kein einziger Fall eines Entzugs des Schweizer Bürgerrechts bekannt, heißt es in der Antwort.

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Donnerstag, 30. Oktober 2014

Behörden kassieren Mafia-Besitz von 700 Millionen Euro

Italienische Behörden haben Besitztümer im Wert von mehr als 700 Millionen Euro beschlagnahmt. Die Güter gehörten dem Geschäftsmann Giuseppe Grigoli, einem Vertrauten der sizilianischen Mafia. Er sitzt eine langjährige Haftstrafe ab.


Giuseppe Grigoli

Bei Ermittlungen gegen die Mafia in Sizilien haben die italienischen Behörden Güter im Wert von mehr als 700 Millionen Euro aus dem Besitz eines Vertrauten der Cosa Nostra beschlagnahmt. Es handle sich um eine der größten derartigen Aktionen seit Beginn der Ermittlungen gegen die Cosa Nostra, teilte die Polizei mit.

Demnach wurden zwölf Firmen, darunter vor allem Supermärkte und Lebensmittelläden, 220 Wohnungen und Häuser sowie 133 Grundstücke beschlagnahmt. Laut Polizei gehörte der gesamte Besitz dem inhaftierten Geschäftsmann Giuseppe Grigoli.

Der auch "König der Supermärkte" genannte Grigoli steuerte nach Angaben der Anti-Mafia-Ermittler in Palermo seine Geschäfte vom Gefängnis aus. Der 64-Jährige sitzt eine zwölfjährige Haftstrafe wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung ab. Grigoli soll enge Verbindungen zu Matteo Messina Denaro haben, einem der wichtigsten Cosa-Nostra-Bosse. Er wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt, ist jedoch flüchtig.

Italiens stellvertretender Innenminister Filippo Bubbico sprach von einem "brillanten Einsatz". Die Strategie der Justiz, die Mafia an ihrem Geldbeutel zu treffen, erweise sich als erfolgreich und müsse fortgesetzt werden.


In einem weiteren Einsatz gegen die Cosa Nostra nahm die italienische Polizei am Dienstagmorgen acht Verdächtige fest. Bei der Aktion in der norditalienischen Lombardei wurden auch die Tochter und der Schwiegersohn von Vittorio Mangano festgenommen, einem seit 2000 verschwundenen Vertrauensmann der Cosa Nostra in Mailand.


Vittorio Mangano


 Er soll vor allem in den siebziger Jahren Geschäfte mit der sizilianischen Mafia gemacht haben. Mangano soll auch Kontakte zum späteren Regierungschef Silvio Berlusconi gehabt haben.
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Mexiko im Griff der Kartelle


Von Klaus Ehringsfeld

Seit 33 Tagen keine Spur von den verschleppten Studenten in Mexiko. Die Angehörigen trafen nun Präsident Peña Nieto. Doch der smarte Staatschef will nicht zur Kenntnis nehmen, dass sein Land aus den Fugen ist.




Fast fünf Stunden haben sie zusammengesessen im schicken Präsidentenpalast. Der smarte Staatschef Enrique Peña Nieto, der stets wie ein Telenovela-Schauspieler auftritt, und mehr als 80 verzweifelte Väter und Mütter in Sandalen, Turnschuhen und mit Cowboyhüten. Enrique Penã Nieto redete viel an diesem langen Mittwochnachmittag im Los-Pinos-Palast, er machte Versprechen und rechtfertigte sich. Die Angehörigen der 43 vermissten Studenten rangen um Worte, stellten Fragen und klagten an.




Kurz vor 21 Uhr gingen Angehörige und Staatsoberhaupt auseinander, ohne je zusammengefunden zu haben.

Der Präsident wandte sich umgehend live auf allen Kanälen an die Bevölkerung und verkündete, man werde in der Suche nach den vermissten Studenten nicht nachlassen, man werde eine Kommission gründen und mehr Beamte in den Bundesstaat Guerrero schicken. "Es gibt keinen noch so kleinen Raum für Straflosigkeit", versprach der Präsident. "Ich bin dem Rechtsstaat verpflichtet." Acht Minuten dauerte die Rede, die vor allem zeigen sollte, dass seine Regierung handelt.




Für die Angehörigen der vermissten Lehramtsstudenten muss das wie Hohn geklungen haben. 98 von 100 Verbrechen bleiben in Mexico ungesühnt. Und in vielen Regionen des Landes hat der Rechtsstaat kaum mehr Einfluss. Dort, wo vor 33 Tagen die Studenten verschleppt und vermutlich ermordet, verbrannt und verscharrt wurden, gilt nur das Recht der organisierten Kriminalität. Die Mafia kauft Politiker und Polizisten, erpresst, entführt, schmuggelt und - wie im Fall der Studierenden - ermordet diejenigen, die ihnen in die Quere kommen oder ihre Ordnung stören.


"Nichts passiert"

Während der Präsident im Fernsehen auftritt, rollen die Väter und Mütter die großen Transparente mit den Fotos ihrer Söhne zusammen, steigen in Busse und fahren in ein Menschenrechtszentrum in Mexico Stadt ein paar Kilometer entfernt vom Präsidentenpalast. Dort machen sie ihrem Frust, ihrem Misstrauen und ihrer Hoffnungslosigkeit Luft: "Wir vertrauen dem Präsidenten und seinen Worten nicht", sagt Felipe de la Cruz Sandoval, einer der Sprecher der Angehörigen.




 "Der Staat tut angeblich alles, um unsere Söhne zu finden, aber nichts passiert. Lebend wurden sie uns genommen, lebend wollen wir sie zurück." Mehr als einen Monat sind die Jungen nun vermisst, mehr als 50 Polizisten und Schergen der lokalen Mafia-Bande "Guerreros Unidos" sind festgenommen, jeden Tag werden Massengräber gefunden. Aber die Jungen bleiben unauffindbar. Das verstehen die Familien nicht.




Was am 26. September als eines der vielen Verbrechen in diesem längst aus allen Fugen geratenen Kampf um Mexiko begann, hat sich zur größten Staatskrise ausgewachsen, seit Enrique Peña Nieto vor knapp zwei Jahren das Präsidentenamt übernommen hat. Mexiko ist erzürnt und die Welt schockiert, weil der Fall von Iguala und den Studenten beinahe lehrbuchhaft zeigt, wie organisierte Kriminalität, Politik und Polizei auf regionaler Ebene in Mexiko zusammenarbeiten.


26.000 Menschen vermisst

Der Bürgermeister Iguala und seine Frau, beide flüchtig, erhielten von den "Guerreros Unidos" monatlich umgerechnet 175.000 Euro, wovon 35.000 Euro an die lokale Polizei flossen. So standen die Einheiten der Ordnungsmacht fast vollständig unter dem Kommando des Kartells. Faktisch herrschten die "Guerreros Unidos" über die mexikanische Stadt, kaum 200 Kilometer südlich von Mexico-Stadt.


...der Bürgermeister Iguala und seine Frau


Kurz vor 21 Uhr gingen Angehörige und Staatsoberhaupt auseinander, ohne je zusammengefunden zu haben.


Der Präsident wandte sich umgehend live auf allen Kanälen an die Bevölkerung und verkündete, man werde in der Suche nach den vermissten Studenten nicht nachlassen, man werde eine Kommission gründen und mehr Beamte in den Bundesstaat Guerrero schicken. "Es gibt keinen noch so kleinen Raum für Straflosigkeit", versprach der Präsident. "Ich bin dem Rechtsstaat verpflichtet." Acht Minuten dauerte die Rede, die vor allem zeigen sollte, dass seine Regierung handelt.

Mafia plant Mord an Priester

Von Julius Müller-Meiningen

Der Geistliche Luigi Ciotti gilt als Italiens am meisten gefährdete Person. Er sieht sich als Kämpfer gegen das Böse - und er weiß, wie man dem organisierten Verbrechen wehtut.





Mit seinem grauen Haar und seiner lauten, unerschütterlich klingenden Stimme ginge Luigi Ciotti auch als Polizist durch, als Staatsanwalt oder Richter. Einige Beamte in Zivil sind immer in seiner Nähe, sie suchen jeden Raum, den der große Mann betritt, nach Gefahren ab. Ciotti gilt als Italiens meist gefährdete Person. Mehreren Staatsanwaltschaften liegen Hinweise auf ein Attentat gegen den 69-Jährigen vor. Die italienische Mafia hat den katholischen Priester im Visier.


Ciotti sieht sich als Kämpfer gegen das Böse

Bei seinen öffentlichen Auftritten erscheint Don Ciotti meist in hellblauem Hemd und dunklem Baumwollpullover. Einen Priesterkragen trägt er nicht. Ciotti hat wenig übrig für Symbole, er empfindet sich vielmehr als tatkräftigen Kämpfer gegen das Böse. „Libera“ („Frei“) hat er den von ihm bereits 1995 gegründeten Verein genannt, in dem sich heute hunderte Italiener gegen die in Italien tief verwurzelten kriminellen Organisationen engagieren. „Wenn die Mafia nur ein kriminelles Problem wäre, würden Polizei und Staatsanwaltschaft zu ihrer Bekämpfung ausreichen“, sagt Ciotti mit der Stimme eines Predigers. Er sieht ebenso die Zivilgesellschaft in der Pflicht. Dass Cosa Nostra, ’Ndrangheta und Camorra schon so lange Erfolg hätten, sei vor allem ein kulturelles Problem.




Ciotti ist das Aushängeschild und Sprachrohr von Libera. Ursprünglich verstand sich der Verein als Interessenvertretung für die bis heute rund 3500 Mafia-Opfer in Italien. Heute verwaltet der Verein rund 450 der vom Staat konfiszierten Mafia-Güter. Auf einigen Ländereien der Bosse werden heute Produkte wie Olivenöl, Wein oder Pasta erzeugt und teilweise sogar außerhalb Italiens unter dem Label „Libera Terra“ verkauft. Viele Jugendliche nehmen an den Sommercamps der Organisation teil. „Wenn ein Boss die Kontrolle über sein Territorium verliert, treibt ihn das zum Wahnsinn“, erklärt Don Ciotti. Es ist das Erfolgsrezept von Libera. Die Organisation ist Bossen deshalb aber auch ein Dorn im Auge.


Verbrecherorganisationen ächten ihn

Der Priester reist beinahe täglich vom italienischen Norden in den Süden. „Die Mafia hat ihre Wurzeln im Süden, erntet aber im Norden“, sagt Ciotti über die bis nach Nordeuropa verzweigten Geschäftswege der Bosse. Er kann sich schon lange nicht mehr unbewacht oder gar spontan durch sein Heimatland bewegen. Wenn er öffentlich auftritt, wird der Ort vorher mehrmals inspiziert, um Bombenanschläge zu verhindern.

Zuletzt war es Toto Riina, der seit 1993 inhaftierte Superboss der sizilianischen Cosa Nostra, der den einflussreichen Priester ächtete. In abgehörten Gesprächen mit einem Mithäftling ließ sich Riina über Ciotti aus, nannte ihn „niederträchtig“ und „feige“ und forderte seinen Tod. Staatsanwälte in Ciottis Heimat Turin sowie in Palermo und Caltanissetta haben offenbar konkrete Hinweise auf ein Attentat. Bewegt sich Ciotti auf Sizilien, wird sein Personenschutz verdoppelt.

Ciotti fordert ein effektives Anti-Korruptionsgesetz in Italien. „Auch die Kirche muss mutiger sein“, sagt er und lobt Papst Franziskus für seinen Kurs. Furchtlose Priester hat es schon vor ihm gegeben. Pino Puglisi und Giuseppe Diana wurden Anfang der 90er Jahre wegen ihres Engagements gegen die Mafia ermordet. 






Don Ciotti sagt über die Bedrohung: „Sie können auch das Leben einer einzigen Person auslöschen, aber mit Libera ist ein ganzer Kosmos entstanden, der nicht mehr so leicht zu besiegen ist.“



Mittwoch, 29. Oktober 2014

Politiker und Mafia sind identisch

Gastbeitrag von Mario Fortunato

Die Mafia in Italien ist nicht mehr die dunkle Seite der Politik und des Geschäfts, sie ist nun Teil der Politik und des Geschäfts. Nicht durch Zufall verdient sie am Turbokapitalismus in Süditalien prächtig mit.


Blick auf das Reich der Camorra: Neapel mit dem Vesuv im Hintergrund


Es ist nicht gesagt, dass man einen Ort besser versteht, nur weil man dort geboren ist; vermutlich trifft eher das Gegenteil zu. In bestimmten Fällen muss man erst richtigen Abstand finden, um zu verstehen. In Bezug auf meine Heimat, Kalabrien, habe ich dafür vierzig Jahre gebraucht - was zumindest eine gewisse Langsamkeit verrät.

Als ich in Kalabrien lebte, war ich noch ein Junge und neigte zu Realitätsferne. Ich hatte nicht das geringste Interesse an dem Thema, an das man nun in Verbindung mit meiner Heimat als Erstes denkt: an die Mafia - hier in ihrer speziellen Variante, der 'Ndrangheta. Was ich wahrnahm, war die bei Jung und Alt verbreitete Arbeitslosigkeit und ihre unvermeidliche Konsequenz, die Armut. Doch wer realitätsfern ist, tendiert dazu, die Dinge zu vereinfachen.

Zur Person

Der Schriftsteller Mario Fortunato, 56, wurde in Ciro in der Region Kalabrien geboren. Heute lebt er in Rom und in London, wo er 2002 bis 2004 das italienische Kulturinstitut leitete.






Landwirtschaft verkommt, Industrieanlagen abgerissen

So nahm ich an, die Mafia in Kalabrien und Süditalien generell wäre, zumindest hinsichtlich ihres Ausmaßes, nichts anderes als eine Antwort auf den Mangel an Arbeitsplätzen. Ich irrte mich. Oder besser, ich war zu optimistisch. Und es dauerte einen guten Teil meines Lebens, bis ich das begriff.

Aktuell liegt die Gesamtarbeitslosigkeit im Mezzogiorno Italiens bei 27 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt knapp 61 Prozent. Es ist unübersehbar, dass die Landwirtschaft verkommt. Die wenigen Industrieanlagen sind abgerissen, die Bauwirtschaft siecht vor sich hin. Der Tourismus der Region war im Dienstleistungsbereich seit jeher unzulänglich, scheint nun auf das Minimum reduziert zu sein - wenn es dem Süden stets an effizienter Organisation fehlte, so war er früher wenigstens wirklich billig.

Zum Ausgleich, heißt es, könnte das kulturelle Erbe für die örtliche Wirtschaft zu einer Art Erdöl werden. Dem würde man gerne zustimmen. Doch inzwischen verfällt selbst Pompeji vor aller Augen, die Museen verwahrlosen, und die historischen Zentren kleiner und mittlerer Städte versinken unter Bergen von Müll. Hinzu kommt noch die humanitäre Katastrophe, die verharmlosend Einwanderung genannt wird. Hunderte arme Teufel machen sich jeden Tag auf den Weg an die Küsten Kalabriens und Siziliens.

Sie stehen vor der Wahl, sich entweder in eines der Aufnahmelager einsperren zu lassen, oder lieber gleich im azurblauen Meer unterzugehen, um sich so vielleicht einen Mitleids-Blumenkranz zu sichern

Ich neige dazu, die Politik als Nebenprodukt der Geschichte zu betrachten. Es liegt an meinem Alter und an meinem Beruf, dass ich mich mehr mit der Vergangenheit als mit Gegenwart oder Zukunft befasse, schon deshalb, weil die Vergangenheit viel reicher erscheint. Heute scheint es, als habe man die Geschichte im Süden Italiens abgeschafft, als seien die letzten Spuren der Zivilisation dabei, endgültig zu verschwinden, und das liegt auch an der Art, wie dort Politik betrieben wird.

Noch bis vor einigen Jahrzehnten stellte die Mafia in ihren Varianten von Camorra, 'Ndrangheta und Sacra Corona eine Form sozialer Stabilität in Italiens Süden dar. Der Zentralstaat funktionierte schlecht und auf widersprüchliche Weise, während die Mafia den Bedürftigen Schutz und Hilfe bot.


Nie wurde gegen Politiker Italiens so umfassend ermittelt

Das setzte voraus, dass der Staat - wie schwach, unaufmerksam oder feindselig auch immer - als Gegenüber gesehen wurde. So konnten die kriminellen Organisationen ein zu diesem Staat paralleles Netz von Beziehungen knüpfen, das auf soliden kapitalistischen Prinzipien beruhte. Der Mafia war es erlaubt, Profite zu erwirtschaften, solange sie als Gegenleistung für den sozialen Frieden in der Region sorgte.

Dieses Schema, das in den Nachkriegsjahrzehnten in einem Politiker wie Giulio Andreotti von der Democrazia Cristiana seinen weitsichtigsten Vertreter fand, scheint heute ausgedient zu haben. Noch nie wurde gegen die politische Klasse Süditaliens so umfassend ermittelt wie in unseren Tagen.

Vor zwei Jahren erst hat die Regierung in Rom den Stadtrat von Reggio Calabria aufgelöst, der größten Stadt Kalabriens - zu schwer wog der Verdacht, dass zahlreiche Parlamentarier eng mit der Mafia verbunden waren. Selbst im Norden, in der Lombardei, hat die 'Ndrangheta ihre Agenten in der Politik. Noch nie standen Teile der italienischen Politik der organisierten Kriminalität so nahe.

Ich sage "nahestehen" - obwohl der Begriff ein ungenauer Ausdruck ist. Der Begriff des Nahestehens kommt nicht ohne Unterscheidung aus. Man mag sich - wenn man "nahestehen" als räumliche Nachbarschaft versteht, den Gouverneur einer süditalienischen Region vorstellen, der mit einem Mafioso dieselbe Zelle teilt. Oder eben den Mafioso und den Gouverneur, die auf verschiedenen Wegen gleiche Ziele verfolgen.

In Wirklichkeit aber, das zeigen die abscheulichen Schlagzeilen der vergangenen zehn Jahre, sind der Mafioso und der Politiker in Kalabrien inzwischen miteinander identisch. Die Mafia kann mittlerweile auf eine institutionelle Repräsentation verzichten. Sie ist ja jetzt selber die Institution. Sie ist die einzige Institution auf dem Markt, die von allen gleichermaßen anerkannt wird, sei es im Inhalt, sei es in der Form.

Derart anerkannt, dass sogar die Kirche gezwungen war, ihr - wenn es um die Mafia geht - über Jahrzehnte dauerndes Schweigen zu brechen: Papst Franziskus hat die Mafiosi für exkommuniziert erklärt. Doch noch immer führt manche Marienprozession am Haus des örtlichen Mafiabosses vorbei, um ihm die Ehre zu erweisen.


Die Politik hat ihren Ruf verspielt

Und so ist auch die Politik nicht mehr die alte. Sie ist darin gescheitert, Kalabrien gut zu regieren, die Region zu entwickeln, die Korruption zu bekämpfen. Sie hat nun ihren Ruf gänzlich verspielt, indem sie Städte und Regionen unmittelbar in Namen und Interesse der einzigen verbliebenen Macht, nämlich der Mafia, regiert. Nur so lassen sich die beständigen Skandale verstehen, die Italien heimsuchen.

Die Mafia ist nicht mehr die andere, dunkle Seite der Politik und des Geschäfts, sie ist Teil der Politik und des Geschäfts. Die zwanzig Jahre unter Berlusconi mit ihrer Vermischung von Staatsangelegenheiten und privaten Geschäften dürften dabei eine tragende Rolle gespielt haben. Und nicht aus Zufall ist die Mafia auch Teil des Turbokapitalismus, der die Region heimsucht.

Die 'Ndrangheta ist führend im weltweiten Drogengeschäft - der Hafen von Gioia Tauro ist ihr wichtigster Umschlagplatz. Sie handelt mit Waffen und Menschen, betreibt illegale Müllhalden und wäscht Geld. Sie ist in der Bauwirtschaft und im Gesundheitswesen angekommen. Sie ist ein großes Unternehmen, mit angeblich 53 Milliarden Euro Umsatz im Jahr.


Hafen von Gioia Tauro


Nur so versteht man den Turbokapitalismus, der im Mezzogiorno triumphiert. Denn was sonst ist die Schattenwirtschaft der Mafia, wenn nicht eine okkulte Form dieses überdrehten Kapitalismus...