Samstag, 21. Juni 2014

Mafia und der Medikamenten-Pansch

In Italien werden teure Medikamente gestohlen, gestreckt oder manipuliert - und dann nach Nordeuropa geliefert. Auch in Deutschland sind solche Arzneimittel aufgetaucht. Experten sind sicher: Hinter dem lukrativen Handel steckt die Mafia.


Geklaut: Herceptin aus Italien. Läuft alles korrekt, wird die Ware durch den Parallelimporteur zuerst umgepackt. Das bedeutet, dass das Etikett auf dem Karton und der Ware selbst mit der deutschen Variante überklebt wird, eine deutschsprachige Gebrauchsinformation gehört ebenfalls dazu.


An Himmelfahrt war bei Trans-o-flex die Hölle los. Unbekannte brachen in das Depot des Transportdienstleisters im nordrhein-westfälischen Neuss ein und stahlen Arzneimittel. Ganze Rollwagenladungen seien weggeschafft worden, Medikamente "in beträchtlichem Umfang", sagt ein Polizeisprecher. Der Warenwert habe im sechsstelligen Bereich gelegen. "Der halbe Bestand ist geklaut worden", sagt jemand, der anonym bleiben will.

Dutzende Hersteller und Re-Importeure sind betroffen, darunter auch das Pharmaunternehmen Roche, dem unter anderem das Medikament Herceptin abhanden kam. Allein im ersten Quartal 2014 brachte das Mittel gegen Brustkrebs dem Schweizer Konzern einen Umsatz von 1,26 Milliarden Euro. Kein Wunder: 150 Milligramm des Infusionslösungskonzentrats kosten in Deutschland 676,59 Euro.
Für die Diebe geht es also um ein lukratives Geschäft durch den Wiederverkauf der Arzneien. Für Patienten, die gestohlene und womöglich verunreinigte oder manipulierte Medikamente einnehmen, geht es um sehr viel mehr. Um ihr Leben.
Wer sind die Täter?

Am 25. Mai betritt ein Mann eine Berliner Apotheke. Er zeigt dem Mitarbeiter eine Packung des Wachstumspräparats SimpleXx. Es stimme etwas nicht mit dem Produkt, sagt der Mann - und verschwindet unerkannt. Der Apotheker schickt die Spritze mit zehn Milligramm Injektionslösung an den Hersteller Novo Nordisk. Nach einer Analyse muss der dänische Konzern bestätigen: Es ist eine Fälschung. Es gebe aber keinen Hinweis darauf, dass weitere gefälschte Produkte in die legalen Vertriebswege gelangt seien.

Eine Fälschung aus dem Nichts? Woher stammt sie? Wer war der Mann, der sie reklamiert hat? Die Pressestelle bleibt stumm, verweist auf laufende Ermittlungen. "Dies ist der erste und einzige bekannte Fall einer Fälschung dieses Arzneimittels in Deutschland", heißt es später in einer Pressemitteilung. Ist das alles?

Vergangene Woche bestätigte das Bundeskriminalamt, man ermittle wegen illegal aus Italien nach Deutschland eingeführter Medikamente - darunter auch Herceptin. Sechs Präparate zur Behandlung von Krebs und Rheuma wurden aus Krankenhäusern und Apotheken zurückgerufen, insgesamt soll es aber um mehr als 60 Medikamente gehen, die über Großbritannien nach Finnland, Schweden, Österreich und Deutschland gebracht wurden. Doch zu den möglichen Hintergründen will sich das BKA auf Anfrage nicht äußern.


Medikamente werden durch falsche Zertifikate "gewaschen" und wieder in den legalen Markt gebracht. "Die organisierte Kriminalität verfügt über die notwendigen Verbindungen und Kanäle, um dieses Geschäft europaweit zu betreiben", sagt Michele Riccardi vom Zentrum Transcrime der Universitäten Mailand und Trento. Riccardi hat mit zwei Kollegen eine Studie zum Diebstahl von Arzneimitteln in Italien verfasst.


Ein ausgeraubtes Medikamentenlager, ein gefälschtes Wachstumshormon, gestohlene Arzneimittel aus Italien - das sei ein überzufälliger Zufall, sagt ein Insider. Die Behörden stehen dem kriminellen Treiben eher hilflos gegenüber.

Vorschriftsgemäß werden warnende Rote-Hand-Briefe an Ärzte und Apotheker verschickt, die Landesgesundheitsämter informieren. Sie kontrollieren, ob Großhändler in ihrem Bereich Ware aus Italien bezogen haben. Wenn, dann wird diese unter Quarantäne gestellt, bis klar ist, dass die Präparate in Ordnung sind.




Anders als in Österreich, wo manipulierte Ware aus Italien in einer Klinik wieder auftauchte, konnten in Deutschland alle Medikamente beim Großhändler konfisziert werden. Verbraucher sind dennoch aufgefordert, Medikamente genau anzuschauen und im Zweifelsfall bei ihrem Arzt oder Apotheker nachzufragen.


gefälschte Krebsmedikamente


Das Bundesgesundheitsministerium erklärte am Mittwoch, "es müsse geprüft werden, wo und wie die illegalen Arzneimittel in die legale Vertriebskette gelangt sind". Ansonsten wird wie stets auf den ermittelnden Staatsanwalt verwiesen. Wer das sein wird, steht allerdings auch nach vier Monaten immer noch nicht fest.


"Ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung in Gefahr."

Der britische Arzneigroßhändler Ambe Medical Group hatte im April als erster Alarm geschlagen: Die Chargennummern bei einigen Herceptin-Fläschchen würden nicht mit denen auf der Packung übereinstimmen. Ambe wandte sich an die Behörden, die feststellten, dass die Chargennummern zu Medikamenten gehörten, die als gestohlen gemeldet worden waren.

Erworben hatte Ambe das Krebsmittel beim italienischen Großhändler Farmaceutica internazionale srl., der bereits im Dezember 2013 wieder vom Markt verschwunden war. Dies bestätigte die italienische Pharma-Aufsichtsbehörde AIFA. Die Herceptin-Hersteller erklärten, das Unternehmen nie mit Medikamenten beliefert zu haben. Teile der verdächtigen Herceptin-Packungen sollen bei dem deutschen Großhändler Cancernova gelandet sein. Das Unternehmen lehnte ein Gespräch mit SPIEGEL ONLINE ab.

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) und das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gaben Warnhinweise heraus. Auch die Europäische Arzneimittelagentur EMA warnte vor den manipulierten und mit falschen Zertifikaten in Umlauf gebrachten Fläschchen. Einige von ihnen enthielten Flüssigkeit, obwohl herkömmliches Herceptin eigentlich als weiß-gelbliches Pulver vertrieben wird, das erst kurz vor der Einnahme aufgelöst werden muss. Teilweise soll der Herceptin-Wirkstoff Trastuzumab durch Antibiotika ersetzt worden sein.




"Das ist kriminell und in hohem Maße besorgniserregend", sagt Eva-Maria Grischke von der Frauenklinik Tübingen. "Die Dosierung von Herceptin erfolgt individuell in Relation zum Körpergewicht, die Gabe in unterschiedlichen Abständen. Die kleinste Abweichung kann zu schweren Gesundheitsproblemen führen." Herceptin ist steril verpackt, wenn die Verpackung beschädigt wird, ist die Gefahr von Infektionen groß - besonders bei Patienten, bei denen etwa durch eine Chemotherapie das Immunsystem geschwächt ist, erklärt die Professorin. "Das erklärt, warum die illegalen Weiterverkäufer Antibiotika zugegeben haben - sie haben Angst, durch verstärkt auftretende Sepsis oder Fieber aufzufliegen."

Die Liste der gestohlenen Arzneimittel werde immer länger, Apotheker sehen bereits die "ordnungsgemäße Arzneimittelversorgung in Gefahr", heißt es in einem Branchenblatt. "Zu überprüfen, ob sich Präparate aus Chargen gestohlener oder manipulierter Arzneimittel in den Schüben befinden", entwickele sich zum Dauerbrenner in deutschen Apotheken.


Der lange Arm der Camorra

"Das Geschäft mit geklauten Medikamenten ist äußerst lukrativ", sagt Michele Riccardi vom Zentrum Transcrime der Universitäten Mailand und Trento. "Sie sind leicht, sauber, gut zu transportieren und bringen eine Menge Geld." Außerdem seien die Strafen für den Diebstahl legaler Arzneimittel in Italien nicht annähernd so hoch wie etwa für Drogenhandel.

Der Handel läuft folgendermaßen ab: Die gestohlenen Medikamente werden entweder auf den Schwarzmarkt geworfen oder über fingierte Zwischen- oder Großhändler in Italien oder Osteuropa "gewaschen" und dann in hochpreisige Länder weiterverkauft.

Eines von zehn italienischen Krankenhäusern hat laut einer Studie von Transcrime in den Jahren 2006 bis 2013 einen Medikamentendiebstahl gemeldet. Die durchschnittlichen Verluste beliefen sich auf etwa 330.000 Euro - pro Fall. Insgesamt gab es in diesem Zeitraum 68 Diebstähle, davon allein 51 im Jahr 2013 - die Tendenz ist also steigend.

Warum schlagen die Diebe nicht direkt beim Produzenten zu, sondern stehlen aus Krankenhäusern? "Die Sicherheitsmaßnahmen in den Fabriken sind zu groß, Kliniken sind offener, das Personal leichter zu korrumpieren." Dasselbe gelte für Diebstähle aus Lastwagen: "Der Transportsektor in Italien ist traditionell vom organisierten Verbrechen durchdrungen, es gibt mit Sicherheit Fahrer, die wegsehen, während ihr Wagen ausgeräumt wird."

Daran, dass die Camorra in den lukrativen Handel mit Medikamenten verwickelt ist, zweifelt kaum jemand. "Wir haben es hier nicht mit einzelnen Fällen von Medikamentendiebstahl durch irgendwelche Kriminelle zu tun, sondern mit einem strategisch operierenden Netzwerk aus verschiedenen Gruppen der organisierten Kriminalität, aus Italien, aber auch Osteuropa", sagt Domenico Di Giorgio von der italienischen Pharma-Aufsichtsbehörde Aifa.

45 Prozent der Diebstähle ereigneten sich im Süden Italiens, in den Regionen Kampanien und Apulien - den Hochburgen von Camorra und Sacra Corona Unita. Da liegt der Verdacht nahe, dass die organisierte Kriminalität am Werk ist, italienischer wie osteuropäischer Provenienz. Die Aifa veröffentlichte eine Liste der in den Verkauf involvierten europäischen Großhändler, die überwiegend aus Ungarn, Rumänien, Lettland und Slowenien stammen. Von den beteiligten italienischen Händlern ist laut Aifa die Hälfte im Raum Neapel angesiedelt.

Die italienische Mafia agiert längst global, die Wirtschaftszweige, in denen sie operiert, sind zunehmend legal und wie geschaffen dazu, Geld zu waschen. Gerade die Camorra hat über die Jahre Verbindungen zu verschiedenen Gruppierungen aus Osteuropa geknüpft.

Das dem Innenministerium unterstellte Kommando für Gesundheitsschutz der Carabinieri wollte sich auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE nicht zu den Verbindungen der organisierten Kriminalität mit dem Fall Herceptin äußern.

Die Medikamentendiebstähle würden in verschiedenen Ländern immer häufiger und nach demselben Muster begangen, sagt Aifa-Experte Di Giorgio. "Die Ermittlungen müssen auf EU-Ebene besser koordiniert werden", fordert er. So müssten etwa Datenbanken mit Informationen zu gestohlenen Medikamenten den Behörden aller Mitgliedsländer zur Verfügung stehen. Gesetze und Kontrollen sollten einheitlicher werden. "Nur dann können wir wenigstens einen Teil des Puzzles rekonstruieren und Verbreitung und Ausmaß der kriminellen Operationen abstecken."

Dass der Diebstahl von teuren Medikamenten ein neuer Trend ist, darin sind sich fast alle Experten einig. Der Verkauf der Produkte über Online-Portale erleichtert den illegalen Handel immens. "Diese sogenannten Online-Apotheken profitieren von dem Robin-Hood-Mythos, versprechen billige Pillen für alle", so Di Giorgio. Die Reaktionszeiten der Kriminellen sind laut Di Giorgio kurz. "Sobald die Ermittler ihnen im Netz auf die Schliche kommen, denken sie sich etwas Neues aus."

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