Samstag, 3. Mai 2014

Scampia – Tagebuch aus der Mafiahölle

Es war noch hell hier oben in Neapels Stadtteil Scampia, Menschen waren unterwegs oder starrten aus den Fenstern auf die verblutende Gestalt. Keiner rief die Polizei: Luigi, genannt Gigino, kannten hier alle. Er war der Camorra-Chef im Viertel, ein mächtiger, schwerreicher Junge und eines der ersten Opfer im blutigsten Bandenkrieg der neapolitanischen Mafia seit Jahren. Im wahnwitzigen Verteilungskampf um den Drogenmarkt vergeht seit zwei Monaten kaum ein Tag, ohne dass Menschen eiskalt exekutiert und Häuser wie Läden in Brand gesteckt werden. Knapp 30 Menschenleben forderte die Fehde bisher, insgesamt gehen 120 Morde in diesem Jahr auf das Konto der Camorra-Clans. So viele wie schon lange nicht.




Luigi Aliberti starb am Nachmittag des 29. September, dem Tag des Heiligen Michael, Schutzpatron der italienischen Polizei. Er hatte seinen Ferrari abgestellt und gerade die Via Ghisleri überquert, als aus einem vorbeifahrenden Auto zwei Schüsse auf ihn abgefeuert wurden. Sie trafen den 30-Jährigen mitten ins markante Gesicht. Auch Enrico kannte den Toten.



Es gab Wochen, da ließ ihn Gigino jeden zweiten Tag in seine Wohnung ein Stockwerk tiefer rufen. Er sollte neuen Stoff testen, bevor der verkauft wurde. Die beiden waren Freunde seit Kindertagen, gemeinsam aufgewachsen im Elend des heruntergekommenen Wohnblocks, den sie hier "Vela" nennen, weil er von weitem einem Schiffssegel ähnelt. Drei dieser Betonburgen aus den 70er Jahren gibt es in Scampia an Neapels nördlicher Peripherie. Sie stehen direkt hintereinander und unterscheiden sich nur durch ihren abgeblätterten Anstrich: Vela Rossa, die rote, Vela Gialla, die gelbe, Vela Celeste, die himmelblaue.

Etwa tausend Menschen vegetieren in jedem dieser abbruchreifen Silos, von denen es so viele gibt in Scampia mit seinen 30- bis 40 000 Einwohnern. Niemand kennt ihre genaue Zahl, denn gemeldet ist hier fast keiner. Miete an die Stadt zahlen die wenigsten. Die Frauen hier bekommen oft ein halbes Dutzend Kinder, das Erste schon mit 15. Viele sind Analphabeten.

An den wie Knäste vergitterten Schulen sind die Lehrer froh, wenn wenigstens 50 Prozent der Schulpflichtigen zum Unterricht erscheinen - und sie selbst noch den letzten Bus um 14 Uhr kriegen, der sie raus aus dem Slum ins halbwegs sichere Zentrum zurückbringt. Scampia ist No-go-Area. Ein einziger, riesiger Supermarkt für Drogen aller Art, ein unheilbares Geschwür, das Italiens drittgrößte Metropole zu einem Medellin Europas degradiert.



In Scampia hat nicht mal jeder vierte Jugendliche einen regulären Job. Der größte Arbeitgeber ist die Camorra: Kaum ein Wohnsilo, in dem nicht 30 bis 40 Familien für sie das Drogengeschäft betreiben. Väter, die den Stoff nach den Vorgaben des Block-Capos verschneiden. Mütter und Töchter, die ihn portionieren und abpacken. Söhne, die den Stoff im eigenen Haus vertreiben oder vor den mit Stahltoren gesicherten Hauseingängen Wache stehen. Man kann ihre Warnschreie im ganzen Viertel hören: "Maria!" ist der Code für "Achtung, Bullen!", "Es regnet!" für das Auftauchen von Unbekannten, die gefürchteter sind als die Polizei: Es könnten Killer eines Rivalen-Clans sein.

Auch Enrico und Gigino dealten im Schichtdienst auf den versifften Korridoren im untersten Stockwerk der Vela Gialla, Heroin in druckfertigen Portionstütchen zu 15 Euro oder zu erbsengroßen Kugeln gepresstes Heroinderivat zum Rauchen auf Staniol, 10 Euro pro Stück für eine neapolitanische Spezialität, die Cobret heißt, "weil das Zeug wie der Biss einer Kobra in dein Hirn fährt". Enrico war sich selbst ein guter Kunde, mit 15 schon auf Droge, erst mit Soda aufgekochte Kokainbase zum Schnüffeln, später die Spritze. "La roba", der Stoff, "hier wächst du mit ihm auf. Er ist bei uns so reichlich zu haben wie Elend und Angst."




Irgendwann Mitte der 90er Jahre hatte ihn Gigino abgehängt. Der muskelbepackte Junge, 1,85 Meter groß, kommandierte damals die Vela Gialla, wurde lokaler Statthalter im Herrschaftssystem von Oberboss Paolo Di Lauro. Luigi und Enrico waren damals 20, der eine Aufsteiger, der andere schon am Abgrund. Anders als Enrico war aus Gigino kein unzuverlässiger Junkie geworden, er hatte seinen Drogenkonsum im Griff.

Guter Koks in richtigen Dosen, das heizt den Ehrgeiz an und die Skrupellosigkeit, um ein erfolgreicher "muschillo" zu werden, eine dieser kleinen Fliegen, die jeden Boss umschwirren wie einen überreifen Apfel: Zu jeder Drecksarbeit bereit, um in der "Familie" aufzusteigen. Auch zu einem Auftragsmord.

Karriere-Jungs wie Gigino gelten als Helden im Block. Als Dealer und Portier kannst du 60 Euro am Tag machen, als Kurier und Auslieferer der Ware oder als Bodyguard für die Chefs gibt es ein festes Wochensalär ab 600 Euro aufwärts, so viel, wie du als Pizzabäcker nicht mal im Monat verdienst. Damit kannst du dir gleich drei, vier dieser geilen neuen Handys leisten und ein Motorino, später ist eins dieser Zweiradgeschosse vom Typ Yamaha drin oder ein Mini Cooper in Silbermetallic, der aktuelle Traumwagen jedes Aufsteigers.

Gigino besaß am Ende einen feuerroten Ferrari und eine Wochenendvilla, trug eine 10 000-Euro-Rolex und Designerklamotten. Er feierte eine Traumhochzeit mit einem Mädel aus dem Viertel für 50 000 Euro und machte ihr drei Kinder, für die er seine Wohnung inmitten der verkommenen Vela Gialla zu einem gepanzerten Neverland umgestalten ließ: mit Terrassen-Pool und Marmorböden, mit Schleiflackmöbeln, Jacuzzi-Bad und Mega-Flachbildschirmen an den Wänden.




Hier musste Enrico zuletzt mehrmals wöchentlich als Versuchskaninchen antanzen, um den von Giginos Leuten gestreckten Stoff zu probieren - ein zynischer Freundschaftsdienst für eine Wochenration Stoff. Vier Mal landete Enrico danach mit schwersten Vergiftungen auf der Intensivstation, er bekam psychotische Anfälle und schlug im Delirium alles kurz und klein in der ärmlichen Wohnung seiner Familie - ein Stockwerk unter Giginos goldenem Nest.

Der war im Imperium des Paolo Di Lauro ein dicker Fisch geworden. Denn er hatte zuletzt alle drei Wohnblocks unter sich, einen von rund einem Dutzend Umschlagplätzen, die der Clan in Scampia und dem benachbarten Stadtteil Secondigliano betreibt. Jeder einzelne bringt nach Kenntnis der Ermittler um die 250.000 Euro ein, täglich. Der graumelierte Di Lauro, 51, hatte sein Gewerbe wie ein Unternehmen organisiert: unter ihm ein fünfköpfiges "Direktorium" der Allertreuesten, die wiederum kontrollierten das Dutzend örtlicher Statthalter. Sie bekamen das Rauschgift kiloweise geliefert, ließen es in eigener Regie strecken und portionieren. Ein Drittel der Tageseinnahmen konnten sie für sich kassieren. Der Rest ging an den Boss.

Di Lauro war Ende der 90er Jahre zum mächstigsten und reichsten unter den Clanchefs in Neapel aufgestiegen. Der Vater von elf Kindern hat sich selten öffentlich gezeigt, mit seiner Familie ein unauffälliges Leben in einer unauffälligen Wohnung geführt. Befehle gab er nie per Handy, nur über Kurier. Mit einem Heer von noch heute auf 2.000 geschätzten Getreuen brachte er den Norden Neapels in seine Gewalt und schuf dort eines der größten Drogen-Einkaufszentren Italiens: Kokain wird über spanische Mittelsmänner aus Kolumbien geliefert, afghanisches Heroin kommt über die Türkei, Ungarn und Montenegro oder Albanien ins Land, Haschisch aus Marokko und Tunesien.



Auf 16 Milliarden Euro schätzt das Innenministerium in Rom die Jahreseinnahmen der Camorra. Das meiste, sagen die Ermittler, fließt in Di Lauros Taschen: gewaschen oder reinvestiert in Ferienimmobilien in Spanien und Kroatien, in Spielcasinos und Bingo-Hallen und in den weltweiten Vertrieb von gefälschten Bosch-Bohrgeräten, Canon-Kameras und Lederjacken aus China. Nur selten gelingt es den Fahndern, Vermögen aus Drogengeldern zu konfiszieren: 100 Millionen Euro sollen es in diesem Jahr insgesamt sein. Für einen Di Lauro die Portokasse.

Wer nicht in Drogen macht, dem bleiben heute eher Peanuts. Das spüren die anderen Clans besonders, nachdem das Geschäft mit geschmuggelten Zigaretten unterbunden wurde. Die einst gefürchtete "Allianz von Secondigliano", ein Bündnis der Familien Licciardi, Lo Russo, Mallardo und Contini, haben an Geld und Einfluss verloren. Sie teilen sich die Einnahmen aus Schutzgelderpressungen, Waffenhandel und Zinswucher. Im Zentrum herrschen die Clans Mazzarella und Giuliano, die neben Schutzgeldern vor allem öffentliche Gelder für Bauaufträge, Sozialdienste und die Müllabfuhr abkassieren. Und im Osten haben sich die Misso und Sarno einen kleinen Anteil am Drogenmarkt gesichert.

Di Lauro - Boss der Camorra in Neapel


Dass alle Clanchefs inzwischen flüchtig sind, weil ihnen die Fahnder nach zähen Ermittlungen mit Haftbefehlen gefährlich nahe gekommen waren, hat die Lage nicht entspannt, sondern verschlimmert: "Wo die großen Bosse fehlen, kommt es zu Spaltungen", sagt Giovanni Corona, 39, Chefermittler der Anti-Mafia-Staatsanwaltschaft in Neapel: "Weil sie aus ihren Verstecken nur noch eingeschränkt agieren können, entsteht ein Vakuum, in das Neulinge mit eigenen Clans drängen." Von den zehn wichtigen Familien haben sich inzwischen zehn neue Unterclans abgespalten. "Mitunter werden um einzelne Straßenzüge erbitterte Fehden ausgetragen", sagt Corona.

Der Krieg um Paolo Di Lauro ist ein Fall wie aus dem Lehrbuch. Im Oktober 2002 wird sein "Direktorium", später auch sein ältester Sohn Vincenzo verhaftet. Paolo gelingt die Flucht. Er lässt den Zweitgeborenen Cosimo ans Ruder, obwohl dem 31-Jährigen das Zeug zum großen Boss fehlt. Cosimo ändert die Regeln und zerstört das fragile Gleichgewicht im Clan: Statt im Kilo bekommen die Platzhirsche den Stoff jetzt bereits in Portionen abgepackt, statt einer satten Gewinnmarge bietet Di Lauro junior schmale Angestelltengehälter.

Ein paar seiner Führungsleute aus Secondigliano setzen sich daraufhin ab, sondieren in Spanien neue Kokain-Kanäle und kurbeln das Geschäft auf eigene Rechnung an. Die "Spanier", wie sie in der Szene heißen, werden den Di Lauros schnell gefährlich: Denn wer seinen Bereich nicht mehr im Griff hat, ist fast schon verloren.

Also schlagen die Killer der Di Lauros zu. Ballern am helllichten Tage in Pizzerien und Spielhallen, exekutieren in Tabakläden, Autowerkstätten oder auf offener Straße, wen sie für einen Überläufer halten. Weil sich viele von denen nach den ersten Morden versteckt halten, trifft es auch Unschuldige. Menschen, die mit einem der Abtrünnigen verwandt oder befreundet waren. Gelsomina Verde etwa, eine hübsche 22-Jährige aus einem Nachbarviertel von Secondigliano, wurde Opfer der Di-Lauro-Killer, weil sie mit einem Mitläufer der "Spanier" ausgegangen war: Am 21. November schossen sie ihr zwei Kugeln in den Kopf, dann verbrannten sie die Leiche im Fiat 600 ihres Vaters. Die neuen Rivalen sind nicht weniger zimperlich.



Wie immer, wenn das Gemetzel zu heftig wird, schreckt das Land auf: 13 000 Polizisten halten die Stadt zurzeit besetzt, Streifenwagen fahren in den umkämpften Quartieren Parade, Hubschrauber knattern über die Dächer, während unter ihnen die Stahlgitter und Schutzmauern der Dealer eingerissen werden. Sieben Bandenchefs der "Spanier" wurden Ende November abgeführt, 51 Gefolgsleute der Di Lauros, darunter noch ein Sohn Paolos. "Für jeden Kopf, den wir verhaften", seufzt Staatsanwalt Corona, "wachsen mehrere neue nach." Nur Investitionen, die Arbeitsplätze schaffen - oft versprochen, nie realisiert - könnten der Camorra neue Generationen junger Söldner entziehen.




"Wenn das Morden vorbei ist", sagt der ehemalige Junkie und Klein-Dealer Enrico resigniert, "werden die Bullen wieder abziehen, und alles bleibt wie vorher." Schlangen Süchtiger vor den monströsen Wohnblöcken, wo sie sich im Minutentakt mit Stoff eindecken. Enrico, heute fast 30, ist seit zwei Jahren clean, raus aus dem Geschäft dank seiner Frau Cinzia und der Familie, die ihn nie aufgegeben hat. Vor einem Jahr sind sie alle aus der Vela Gialla ausgezogen, in eine neue Wohnanlage, zwei Straßenzüge weiter. Da gibt es ein paar Bäume, saubere Treppenhäuser und Aufzüge, die funktionieren, weil sie noch niemand zu Waffen- und Drogenlagern umfunktioniert hat.




Enrico hat die Schüsse gehört, die seinen alten Freund Gigino töteten. Der Mord geschah keine 200 Meter von seiner Wohnung entfernt. Gigino hatte sich mit den "Spaniern" eingelassen und als einer der Ersten dafür bezahlt. Dass er, der Ex-Junkie, noch lebt und sein Freund, der Boss, tot ist, klingt für Enrico wie ein schlechtes Märchen. Er will nicht fotografiert werden. "Nennt mich Pasquale, Peppino. Ganz egal." Für uns ist er Enrico.



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